
Die höchste Halbfinalschmach über zwei Spiele seit mehr als 60 Jahren kassiert niemand gerne. Aber das als nominell bestes Team Europas der jüngeren Vergangenheit? Für Barca ist das eine Schmach. sportal.de analysiert einen weiteren historischen Abends.
Fußballgeschichte ist nicht immer spannend. Aber sie ist immer historisch. Auch der vierte von vier Halbfinalabenden bot ein Spiel, das man als Fußballfan gesehen haben sollte. Der FC Barcelona, die dominierende Mannschaft der letzten fünf Jahre in Europa und der Welt, verlor. Das alleine kommt ja bei jeder Mannschaft vor. Aber mit 0:7 über Hin- und Rückspiel? Das war das einseitigste Halbfinale in Europas Pokal der Meister seit über 50 Jahren. 1960 hatte Eintracht Frankfurt die Rangers zusammen mit 12:4 bezwungen (und dann das Finale jedoch mit dem negativen Rekordergebnis von 3:7 gegen Real Madrid verloren).
Dass dieser uralte Halbfinal-Rekord von den Bayern fast gebrochen wurde, ist eine Sache. Dass er aber gegen die vermeintlich beste Mannschaft des Planeten fast gebrochen wurde, zeigt die Dimension des Geschehens im Nou Camp an. Primär wird es in dieser Analyse um Barcelona gehen, und die Frage, wie es nun weitergehen soll. Zum deutschen Finale und der Klasse des FC Bayern wird es in den kommenden Wochen noch genug Anlass geben, zu schreiben, aber einige Anmerkungen seien auch heute schon gestattet. Wer allerdings lieber schon jetzt einen reinen Bayern-Jubel-Artikel lesen möchte, wie einige der Leser, die die Hinspielanalyse kommentierten, findet im deutschsprachigen Internet sicher genug in diese Richtung tendierende Alternativen.
Dessen ungeachtet gilt in jede Richtung die Devise, dass ein einseitiges Fußballspiel nie nur an der Stärke der einen oder der Schwäche der anderen Mannschaft liegt, sondern immer eine Kombination von beiden ist. Bayern München spielt eine Saison von historisch guten Ausmaßen, und es ist offen gestanden kaum vorstellbar, wie selbst der ebenfalls sehr gute BVB diese Münchner in Wembley schlagen soll. Seit mehr als vier Champions League-Spielen hat Bayern kein Gegentor mehr kassiert, inzwischen sind es 21 Siege aus den letzten 23 Spielen (das Vorrundenspiel gegen BATE Borisov und die bedeutungslose Rückspielniederlage gegen Arsenal ausgenommen). Das Torverhältnis in diesen letzten 23 Spielen: 69-9.
Bastian Schweinsteiger
Bastian Schweinsteiger ist, wie auch die Leistung in Barcelona zeigte, einer der besten Fußballer der Welt. Und auch wenn der großartige Javi Martínez ihm in wenig nachsteht, muss man besonders hervorheben, wie Schweinsteiger, gelbvorbelastet, keinem Zweikampf auswich, mehr Tacklings ansetzte als jeder andere Spieler auf dem Platz - und dennoch ohne jedes Foul auskam. Von seinen Pässen ganz zu schweigen.
Das Beste aus Bayern-Sicht aber: Selbst Schweinsteiger ist in diesem Kader nicht unersetzbar. Ebensowenig wie Martínez, wie Mario Mandzukic, Dante oder Franck Ribéry. Das ist auch schon einer der großen Unterschiede zum FC Barcelona, der seine Abhängigkeit von Lionel Messi, aber auch zum Beispiel von Sergio Busquets, nicht mehr verbergen kann. Dass Barcelona den berühmten "Plan B" nicht besitzt, ist seit spätestens 2010 ein wiederkehrendes Thema in Debatten um die Blaugrana. Wenn zwei wichtige Spieler ausfallen, dann hat die Mannschaft momentan aber nicht einmal einen Plan A.
Barcelona abzuschreiben, mag absurd klingen, nachdem die Mannschaft gerade zum sechsten Mal in Folge im Halbfinale der Champions League gespielt hat und am Wochenende den spanischen Meistertitel sicher stellen kann. Die hier formulierte Kritik ist insofern relativ zu den Erfolgen der vergangenen Jahre und beinhaltet keinen prognostizierten Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Im heutigen Profifußball gibt es einen solchen auch nicht, zumindest nicht von ganz oben: Bayern München, Real Madrid, Barcelona, Juventus, Milan und Manchester United werden auch in zehn Jahren Spitzenteams sein. Sie verdienen einfach zu viel mehr Geld als ihre jeweilige Konkurrenz, um dauerhaft von dieser überholt zu werden.
Barcelona
Barcelona aber muss dringend einige Probleme im Kader (und vielleicht auch in der sportlichen Leitung) adressieren. Seit 2007 waren die Blaugrana nur dreimal in der Champions League gescheitert - sowohl gegen Manchester United 2008 als auch gegen Inter 2010 und Chelsea 2012 dank extremer Defensivtaktiken. Bayern aber verdankte seinen Triumph zwar auch primär der Arbeit gegen den Ball, aber die Münchner waren einfach in jeder Hinsicht die klar bessere Mannschaft. Besonders beunruhigend aus katalanischer Sicht, dass die Raumaufteilung der Bayern so viel besser war, dass der Druck auf die ballführenden Spieler so groß wurde, dass Barcelonas Profis mehr technische Fehler unterliefen als dem Gegner. Schon, als es noch 0:0 stand, hatte man den Eindruck, Bayern habe die besser ausgebildeten Fußballer.
In der letzten halben Stunde, als das Spiel bereits entschieden war, spielte Barcelona ohne Messi, Xavi, Iniesta und Busquets gleichzeitig. So sah das Spiel auch aus. Sind die Blaugrana also wieder die Alten, wenn die drei Stars nur wieder fit sind? Nicht unbedingt. Beim 0:2 in Mailand spielten alle - ohne Chance. Im heutigen Fußball ist es auf höchstem Level zudem tödlich, keinen gleichwertigen Ersatz zu haben, wenn es Verletzungen gibt. Und die gibt es normalerweise in einer anspruchsvollen 60-Spiele-Saison immer. Wie kann es sein, dass erneut Marc Bartra starten musste? Speziell in der Defensive ist Barcelona bei Weitem keine europäische Spitzenklasse.
Ob auch Trainer Tito Vilanova zur Disposition stehen sollte, ist eine schwierigere Frage, nicht zuletzt angesichts seiner Erkrankung. Aber auch, weil man seine Abwesenheit als Argument für seine Klasse sehen kann (bis zu Vilanovas Auszeit in New York lief die Saison hervorragend), ebenso jedoch auch anführen kann, dass es nun auch mit ihm nicht rund läuft. Ob Barcelona mit dem Coach in die neue Saison gehen sollte oder nicht, ist aus den angesprochenen Gründen mehr als eine rein sportliche Entscheidung. Wenn Tito bleibt, dann sollte der Kader aber grundlegend hinterfragt werden und die Positionen identifiziert werden, auf denen das Team mehr Klasse braucht und mehr Variabilität benötigt.
La Masia: Trumpf oder Achillesferse?
Ein Problem bei jedem Umbau ist aber eine eigentliche Stärke des Clubs: sein starkes Schöpfen aus der eigenen Jugendakademie La Masia. Es gilt als Sportjournalist geradezu als Sakrileg, Spieler aus der eigenen Jugend nicht für das tollste und beste zu erklären, was es im Profifußball gibt. Fakt ist aber, dass die spezielle Clubkultur in Barcelona es für Spieler, die von außen in den Kader transferiert werden, oft sehr schwer macht, sich zu integrieren. Das Aufgebot einfach mit Topstars zu verstärken, ist also leichter gesagt als getan. Dieses Argument macht auch Jonathan Wilson.
Zum Abschluss noch ein Ausblick aufs Bundesligafinale am 25. Mai. Bei aller Begeisterung für internationales Flair: Ein attraktiveres Endspiel lässt sich momentan kaum vorstellen, und es ist zum fünfzigsten Geburtstag die große Chance für die Bundesliga, sich im internationalen Schaufenster mit dem Fußball zu präsentieren, der diese beiden großartigen Teams so weit gebracht hat. Besonders schön ist auch der Umstand, dass zum ersten Mal seit fünf Jahren auf beiden Seiten niemand fürs Endspiel gesperrt ist.
Das ist toll, aber übrigens kein Grund für die unvermeidliche Forderung, Endspielsperren seien zu vermeiden, indem die Verwarnungen gestrichen werden. Damit niemand "so ein wichtiges Spiel" verpasse. Sie erinnert an die ähnlich ärgerliche Überzeugung, Rote Karten für Notbremsen im Strafraum seien "eine Doppelbestrafung" und zu hart (die Strafe muss mindestens so hart sein wie das durch das Foul verhinderte Gegentor, sonst ist es ja immer attraktiver, die Strafe hinzunehmen, man muss also rationalerweise Notbremsen einsetzen).
Es gibt wirklich gute Gründe gegen Gelbsperren als Konzept. Sie bevorteilen Gegner von Teams mit gesperrten Spielern, die Teams, gegen die die Gelben Karten verursacht wurden, haben hingegen gar nichts davon. Man könnte Verwarnungen auf ihre Grundidee zurückführen: als letzten Hinweis vor einem Platzverweis. Wenn es aber Gelbsperren gibt und man findet, ein Spieler mit x Verwarnungen müsse aussetzen, dann ist es total widersinnig, diese Praxis ausgerechnet für die wichtigsten Spiele auszusetzen. Im Halbfinale sollen Spieler sich dann Fouls oder Handspiele leisten können, die im Viertelfinale noch fatal gewesen wären? Was soll das?
Im Finale von Wembley spielt das Ganze aber wie gesagt keine Rolle, da können wir uns ganz auf das Sportliche konzentrieren. Angefangen mit einer kleinen Generalprobe am kommenden Wochenende. Let the countdown begin!