Als Marinus Kraus nur mit Glück einen schweren Sturz verhindert hatte, zog die Jury endlich die Reißleine: Starker Wind hat erstmals in der Geschichte der Vierschanzentournee zu einem Abbruch des Auftaktspringens in Oberstdorf geführt. Böen von bis zu 50 Kilometer pro Stunde ließen an einem chaotischen Tag nur elf Sprünge zu, nach einem fast dreistündigen Geduldsspiel hatte die Jury ein Einsehen.
"Wir haben es nicht geschafft, hier einen korrekten Wettbewerb durchzuführen. Das tut uns sehr leid", sagte FIS-Renndirektort Walter Hofer über das Stadionmikrofon an die 24.500 enttäuschten Fans und kündigte einen zweiten Versuch für Montag um 17.30 Uhr an: "Dann wollen wir das hier nachholen."
Wenige Minuten zuvor hatte Kraus in der Luft das Gleichgewicht verloren und nur dank einer artistischen Meisterleistung Schlimmeres verhindert. "Das war an der Grenze. Ich habe oben über eine Stunde gewartet. Die Jury hat immer um 15 Minuten verschoben, das ist für uns der Horror pur. Jetzt gehe ich ins Bett, heute springe ich auf keinen Fall mehr", sagte Kraus nach seinem Beinahe-Crash.
Schuster erleichtert
Entsprechend froh war auch Bundestrainer Werner Schuster: "Zum Glück ist Marinus auf den Beinen gelandet ist. Das war schon sehr, sehr knapp", sagte der Österreicher. Der Abbruch sei die einzig richtige Folge gewesen. "Ich bin schon erleichtert über die Entscheidung. Es hat am Ende keinen Sinn gemacht, da hätte man auch Würfeln können. Für den Sport war es die richtig Entscheidung", sagte Schuster.Zuvor waren die Nerven von Athleten und Fans über mehrere Stunden strapaziert worden. Schon der für 15.30 Uhr angesetzte Probedurchgang wurde komplett gestrichen, Severin Freund und Co. vertrieben sich die Zeit am Kicker-Tisch oder mit dicken Kopfhörern auf den Ohren. Auch der für 16.30 Uhr geplante Start des Wettkampfs wurde immer wieder verschoben, um 19.16 Uhr warf die Jury endgültig das Handtuch.
"Es ist die alte Geschichte: Wenn Wind und Schnee zusammen kommen, ist es schwierig. Für uns geht es darum, alle Fakten und Daten zu beachten. Es geht darum, uns nach den Bedürfnissen des Athleten zu richten. Und das tun wir", sagte Hofer.
Erst der vierte Abbruch
Andere Athleten hatten während des Wartens immerhin Spaß im Winterwunderland Oberstdorf: Gregor Schlierenzauer warf Schneebälle auf TV-Kommentatoren, Simon Ammann baute mit Kindern Schneemänner, Andreas Kofler und Kraus futterten fleißig Schokolade. "Jeder von uns wäre gerne gesprungen. Dass es so windig ist, ist eine ziemlich blöde Situation", sagte Titelverteidiger Thomas Diethart (Österreich).Die komplette Absage eines Springens hatte es zuvor in der Tournee-Geschichte erst dreimal gegeben: 1956 wurde der Wettbewerb in Bischofshofen wegen Schneemangels gestrichen und ins nahe Hallein verlegt, 1979 musste das Neujahrsspringen auf den 2. Januar verschoben werden. Im Winter 2007/2008 gab es schließlich die erste "Dreischanzentournee": Ein Föhnsturm in Innsbruck hielt die Athleten am Boden, in Bischofshofen fanden daraufhin zwei Wettbewerbe statt.
Aber auch Oberstdorf ist eigentlich ein gebranntes Kind. Erst 2011 hatte die Jury den ersten Durchgang nach 35 Sprüngen abbrechen müssen und einen Neustart angeordnet, was zu hitzigen Diskussionen führte. Seither stehen auch die Forderungen nach einem Windnetz im Raum, in Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck gibt es einen solchen Schutz bereits. Hofer hatte erst im Sommer auch für Oberstdorf ein Netz gefordert.