Der Australier Michael Rogers hat den ersten Schlagabtausch in den Pyrenäen gewonnen, Vincenzo Nibali mit einer souveränen Vorstellung den nächsten Schritt zu seinem ersten Tour-Sieg gemacht. Der frühere T-Mobile-Kapitän Rogers vom Tinkoff-Team des verletzt ausgestiegenen Alberto Contador setzte sich auf der mit 237,5 km längsten Etappe der 101. Frankreich-Rundfahrt in Bagnères-de-Luchon aus einer fünfköpfigen Spitzengruppe durch und feierte seinen ersten Tagessieg bei der Grande Boucle.
Der italienische Tour-Dominator Nibali kam mit der ersten größeren Verfolgergruppe 8:32 Minuten nach Rogers ins Ziel und liegt in der Gesamtwertung weiter komfortable 4:37 Minuten vor dem Spanier Alejandro Valverde (Movistar). Neuer Dritter ist der Franzose Thibaut Pinot (FDJ/+5:06), nachdem sein Landsmann Romain Bardet (AG2R) am letzten Anstieg hatte abreißen lassen.
Sollte Nibali am Sonntag in Paris triumphieren, hätte er nach seinem Sieg bei der Vuelta 2010 und dem Giro 2013 als erst sechster Fahrer der Radsport-Geschichte alle drei großen Landesrundfahrten gewonnen. Vor ihm war dies nur Jacques Anquetil (Frankreich), Felice Gimondi (Italien), Eddy Merckx (Belgien), Bernard Hinault (Frankreich) und Contador (Spanien) gelungen.
Voeckler verpasst Hattrick
Der 34 Jahre alte Rogers, von 2003 bis 2005 dreimal in Serie Zeitfahr-Weltmeister, hatte sich auf der letzten Abfahrt vom Port de Balès von seinen vier Begleitern gelöst und im Ziel neun Sekunden Vorsprung auf Thomas Voeckler (Europcar). Der französische Publikumsliebling verpasste damit knapp den Hattrick in Bagnères-de-Luchon, wo er 2010 und 2012 gewonnen hatte.
"Es ist unglaublich, ich habe nicht gedacht, dass ich das schaffe. Ich wusste, dass es hart wird. Aber zum Schluss habe ich es richtig laufen lassen", sagte Rogers, einst Nachfolger von Jan Ullrich als T-Mobile-Kapitän und heute nicht unumstritten. Im Oktober 2013 war er positiv auf Clenbuterol getestet, seine Sperre aber ein halbes Jahr später aufgehoben worden, da ihm kein bewusstes Verschulden nachzuweisen war. In der Folge gewann Rogers zwei Etappen beim Giro.
Rogers, Voeckler und der Kolumbianer José Serpa (Lampre), die drei letzten "Überlebenden" einer ehemals 21-köpfigen Fluchtgruppe, erreichten gemeinsam die Bergwertung der höchsten Kategorie auf dem 1753 m hohen Port de Balès und stürzten sich in die 21,5 km lange Abfahrt ins Ziel. Auf dieser konnten Cyril Gautier (Frankreich/Europcar) und Wassil Kiryjenka (Weißrussland/Sky) aufschließen. Nach einer missglückten Attacke von Gautier gelang Rogers sieben Kilometer vor dem Ziel der entscheidende Angriff.
Nibali, der stets alles im Griff hatte, erreichte die Passhöhe rund acht Minuten danach in einer Sechsergruppe, weitere zwei Minuten später folgte Bardet.
Bei der Abfahrt vom Col de Portet-d'Aspet hatte das Feld zuvor die Gedenkstätte für den italienischen Radprofi Fabio Casartelli passiert. Der Olympiasieger von 1992 und damalige Teamkollege von Lance Armstrong war dort am 18. Juli 1995 als bislang letzter Tour-Fahrer gestorben, nachdem er mit dem ungeschützten Kopf auf einen Begrenzungsstein geprallt war - eine generelle Helmpflicht führte der Weltverband UCI erst ein Jahrzehnt später ein.
IAM-Profi Roger Kluge (Eisenhüttenstadt) hatte zuvor ebenfalls zu der 21-köpfigen Fluchtgruppe gehört, die sich kurz nach dem Start in der Festungsstadt Carcassonne abgesetzt hatte. Die Flüchtlinge fuhren zeitweise über zwölf Minuten Vorsprung heraus. Kluge, Olympiazweiter von Peking 2008 im Punktefahren, hielt bis zum letzten Anstieg am Port de Balès mit, wurde dort aber auf den ersten Kilometern abgehängt.
Auf die längste Etappe der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt folgt am Mittwoch die mit 124,5 km kürzeste. Doch diese hat es wahrlich in sich. Auf dem Weg zur Bergankunft auf dem Pla d'Adet (1654 m, höchste Kategorie) stehen drei Bergwertungen der ersten Kategorie auf dem Programm: der Col du Portillon (1292 m), der Col de Peyresourde (1569 m) und der Col de Val Louron-Azet (1580 m).