
Erinnern Sie sich an das DFB-Pokalfinale 2012, als das träge umschaltende Bayern München defensiv gegen das Tempo von Borussia Dortmund völlig überfordert war und 2:5 baden ging? Ein Szenario, das sich dank Javi Martinez nicht wiederholen dürfte.
Unmittelbar nach der Champions League-Gala des FC Bayern München gegen den OSC Lille lehnte sich Uli Hoeneß genüsslich zurück und zeigte ein zufriedenes Lächeln. Wie eigentlich immer, wenn etwas genau nach seinen Vorstellungen verläuft. Das letzte Mal hatte er wegen fehlender Bayern-Erfolge wohl so gestrahlt, als er seine Bratwürstchen an eine Burgerkette verkaufen konnte. Aber nicht etwa der souveräne 6:1-Sieg oder die enorme Dominanz seiner Mannschaft hatten den Präsidenten so erfreut, sondern vielmehr die Leistung von Javi Martinez.
An dessen Verpflichtung hatten sich zunächst die Geister geschieden, die Ablösesumme von 40 Millionen Euro war kritisiert, der Sinn der Verpflichtung überhaupt in Zweifel gezogen worden, nachdem die ersten Einsätze von Martinez auch wegen Trainingsrückstands und leichten Eingewöhnungsproblemen eher unspektakulär verlaufen waren. Große Bäume hatte er nach Meinung der meisten Beobachter zwar auch in der Partie gegen Lille nicht ausgerissen. Doch Hoeneß hatte genug gesehen.
"Das war ein Spiel für Insider, als Fachmann hat mir das Herz im Leibe gelacht", bügelte er via AZ zunächst alle Kritiker ab, die angesichts des auch Trainingsrückstand geschuldeten holprigen Starts des 40 Millionen Euro-Einkaufs seinen Nutzen tatsächlich angezweifelt hatten, um Martinez danach ausdrücklich zu loben. Schließlich hatte Hoeneß erstmals gesehen, "warum wir ihn gekauft haben."
Omnipäsenter defensiver Ruhepol in der Zentrale
Und das war eben nicht wegen aufsehenerregender Szenen, eigener Torerfolge oder direkter Assists, sondern vor allem, weil er die Fähigkeit besitzt, der Bayern-Mannschaft die in den letzten Jahren so schmerzlich vermisste Kompaktheit und Balance zwischen Offensive und Defensive zu geben. Das war nicht zuletzt im letzten Jahr beim blamabel mit 2:5 verlorenen DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund der Schlüssel zur Niederlage gewesen, als die Bayern viel zu träge von Angriff auf Abwehr umschalteten und so vom Tempospiel des BVB einige Male überrollt wurden.
Das lag zwar auch mit an der nicht immer sattelfesten Viererkette, doch vor allem - so fanden die Bayern-Verantwortlichen - an der Problemstelle defensives Mittelfeld. Damit Blamagen dieses Kalibers nicht noch einmal vorkommen, wurde die Zentrale durch Martinez verstärkt, der mittlerweile aus der Mannschaft der Bayern nicht mehr wegzudenken ist und ihrem Spiel vornehmlich an der Seite von Bastian Schweinsteiger eine ganz neue Qualität verleiht.
Martinez ist in erster Linie als omnipräsenter, unaufgeregter defensiver Ruhepol gefordert. Er kann Angriffe der Gegner vorausahnen und dank Zweikampf- und Kopfballstärke und herausragenden Stellungsspiels, manchmal aber auch dem benötigten Schuss Kompromisslosigkeit gezielt unterbinden - zumeist sogar fair. Dass Bayern München in der Bundesliga bisher erst acht Gegentore hinnehmen musste, ist zu einem großen Teil diesen Qualitäten zuzuschreiben. Und je mehr er sich in die Mannschaft einfügt, desto eindrucksvoller treten sie zu Tage.
Martinez sorgt für Tempo- und Rhythmuswechsel bei Bayern München
Wie im Champions League-Auftritt beim FC Arsenal, nach dem ihn der Guardian in seiner Einzelkritik im Anschluss überschwänglich lobte: "Er zeigte genau das, woran es so vielen Mitbewerbern auf seiner Position mangelt." Das schließt aber noch eine weitere Qualität ein, die Martinez in Ansätzen auch gegen Arsenal, noch eindrucksvoller aber beim Kantersieg gegen Werder Bremen zeigte.
Denn gleichzeitig macht sich der Spanier auch um den Spielaufbau der Bayern verdient. Der Fokus seines Spiels liegt nämlich nicht auf dem reinen Zerstören gegnerischer Angriffe, sondern vor allem in der Balleroberung und - noch wichtiger - der Weiterverarbeitung, ist der neue Dreh- und Angelpunkt im Umschaltspiel der Bayern. Wo vorher oftmals ein langer Diagonalball von Holger Badstuber für die Spieleröffnung hatte herhalten müssen, dirigiert jetzt der nicht nur gegen Werder immer anspielbare Ballverteiler in der Zentrale dank überragender Übersicht das Bayern-Spiel.
Er bestimmt Tempo und Rhythmuswechsel, reißt wie gegen Bremen dank seiner Passsicherheit (Quote deutlich über 90 Prozent) immer wieder mit Vertikalpässen Löcher in die gegnerische Defensive. Anlass für Kritik böte derzeit höchstens seine fehlende Grundschnelligkeit, die er aber durch sein taktisches Verständnis auszugleichen weiß.
Kroos und Müller profitieren von Martinez
Wie Martinez das macht, mag - sein Fallrückziehertor gegen Hannover ausgenommen - nicht immer besonders spektakulär aussehen, ist aber immens wichtig für das Spiel der Bayern in dieser Saison. "Jetzt sieht die Öffentlichkeit, warum ich mich so für ihn stark gemacht habe", erklärte Jupp Heynckes auf der Bayern-Homepage und fügte an: "Das ist genau der Spieler, den wir auf dieser Position im defensiven Mittelfeld gebraucht haben." Die Problemstelle ist damit nach bisherigen Erkenntnissen behoben, zudem geht dank der Kopfballstärke des Spaniers nun auch wieder regelmäßig Gefahr nach ruhenden Bällen von den Bayern aus.
Martinez besitzt genau die Qualitäten, die Anatoliy Tymoshchuk und Luiz Gustavo fehlen und von denen das Spiel der Bayern insgesamt, aber auch Einzelspieler profitieren. Toni Kroos, der dank des Neuzugangs nicht mehr wie noch in der Vorsaison regelmäßig auf die Doppelsechs beordert wird, weniger Drecksarbeit verrichten muss, sondern sich vornehmlich auf seine Vorzüge auf der Zehn konzentrieren kann, was seinen Leistungen erheblich zuträglich ist. Auch Thomas Müller schlägt Kapital daraus, schließlich kann er sich nach Belieben auf seiner Schokoladenposition auf rechts austoben, wie elf Tore und elf Assists eindrucksvoll bestätigen.
Der Anteil von Martinez am Erfolg ist groß
Das bringt Erfolg (17 Punkte Vorsprung in der Meisterschaft, ein Bein im Champions League-Viertelfinale und DFB-Pokalviertelfinale) und damit auch Harmonie in der Mannschaft. Das alles jetzt nur auf "Xaver", wie Martinez im Mannschaftskreis genannt wird, zu reduzieren, wäre natürlich zu einfach. Doch sein Anteil als Denker, Lenker, aber auch Arbeiter ist immens.
Und wenn Bayern München mit ihm nach zuletzt sechs erfolglosen Versuchen gegen den BVB wieder ein überzeugender Sieg gelänge, wäre nicht nur die Schmach vom DFB-Pokalfinale vor einem Jahr getilgt, sondern Uli Hoeneß könnte sich wieder lächelnd zurücklehnen, sich eine Zigarre anzünden - in dem Bewusstsein, dass der Plan mit Martinez funktioniert und Bayern München mal wieder alles richtig gemacht hat.