
Wir haben alle 16 Mannschaften gesehen. Dann ist ja klar, wer Europameister wird, oder? Hatten wir nicht genau diese Prognose angekündigt? Na gut. Wir sichten das Feld, nennen die Teams, die den Titel gewinnen können, die Außenseiter und den chancenlosen Rest. Eine Spezialanalyse der Niederlande ist auch dabei - und unser Tipp, wer am 1. Juli in Kiew gewinnt.
Der erste Spieltag der EM 2012 ist vorbei, wir haben alle 16 Mannschaften einmal gesehen. Traditionell der Moment in einem Turnier, an dem wir uns mit Kennermiene im Sofa zurücklehnen und den staunenden Freunden und Verwandten erklären, dass man nun klar sagen kann, wer das Turnier gewinnt, wenn man sich nur etwas mit Fußball auskennt.
So blicken wir also an diesem Montagabend in die erwartungsvollen Gesichter unserer Mitmenschen und stehen vor einer ähnlich schwierigen Aufgabe wie Donald Duck, wenn er seinen Neffen etwas erklären soll, was Das Schlaue Buch viel besser weiß. Denn seit Wochen betonen wir, dass Defensive das Gebot der Stunde in Europa ist und daher gute taktische Ordnung und nicht individuelle Brillanz die Euro entscheiden werde.
Jetzt erst wird uns das Dilemma bewusst, in das wir uns mit diesem Gerede gebracht haben. Denn nachdem in acht EM-Spielen sechsmal die reaktivere Mannschaft gepunktet hat, muss man ja annehmen, dass Spiele zwischen zwei gleichstarken Teams immer so aussehen wie die jüngste Schach-WM (zehn Unentschieden in zwölf Partien). Wer soll daraus noch schlau werden?
Nun könnte man das Problem umgehen, indem man statt des Schlauen Buchs das Handbuch des deutschen TV-Kommentators zur Hand nimmt, und diesem entnimmt:
"1) Mannschaft A führt. Ursache: Sie hat den größeren Willen. 2) Mannschaft A liegt zurück. Ursache: Ihr fehlt die Leidenschaft. 3) Es steht unentschieden. Ursache: Beide Teams betreiben zu wenig Aufwand/spielen zu pomadig". Das Problem dieses Ansatzes ist, dass er zwar ausreicht, um gegenüber Millionen Gebührenzahlern Fachwissen zu simulieren, aber nur retroaktiv funktioniert, weil man damit vor dem Spiel nichts anfangen kann.
Behelfen wir uns also mit eigenen Thesen, die von der Wirklichkeit schon morgen brutalstmöglich widerlegt werden können, aber bis dahin propagieren wir: "Die sportal.de-Taktikexperten in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf".
1) Kann Russland Europameister werden?
Wenn die Mannschaft, die am ersten Gruppenspieltag den begeisterndsten Fußball zeigt, später auch das Turnier gewinnen würde, dann hätten die letzten Titelträger so geheißen: Weltmeister 2010: Deutschland, Europameister 2008: Niederlande, Weltmeister 2006: Spanien, Europameister 2004: Schweden, Weltmeister 2002: Deutschland.
Schlechte Karten für Russland, zumal der Gegner Tschechische Republik sicher nicht der Maßstab für den Titelgewinn sein kann (ebenso wenig wie Australien 2010, Bulgarien 2004 oder Saudi-Arabien 2002). Aber sehen wir uns trotzdem Russlands Chancen genauer an. Dick Advocaats Team hat eine Reihe von Faktoren auf seiner Seite, die für einen Erfolg sprechen:
a) Keiner der Leistungsträger hatte im Mai noch entscheidende Clubspiele, die Vorbereitung lief wesentlich gründlicher und länger als bei den großen Favoriten.
b) Der Kern des Teams ist eingespielt bei Zenit St Petersburg, darunter das komplette Mittelfeld. Das mindert die Diskrepanz zwischen der Leistung der Spieler im Club gegenüber der Auswahl.
c) Die Spielanlage eignet sich gut dafür, aus der Defensive heraus auch gegen bessere Teams zu agieren, da sie ohnehin auf Konter setzt. In einem von der Defensive geprägten Turnier könnte Russlands Umschaltspiel entscheidend werden.
Kann Russland also doch Europameister werden, wie Griechenland 2004 als bisher letzter Sensationssieger? Wahrscheinlich nicht. Denn anders als 2004 sind viel mehr hochkarätige Topteams in guter Form dabei, es wird nicht reichen, eine einzige große Nation im gesamten Turnierverlauf zu schlagen (wie Otto Rehhagels Mannschaft 2004 gegen formschwache Franzosen). Zudem fehlt es der russischen Viererkette an Mobilität.
2) Wenn Defensive das Turnier entscheidet, fliegen die Niederlande dann raus?
Zwei Tage vor dem Klassiker Deutschland - Niederlande, in dem Deutschland nur eines der letzten sechs Pflichtspiele gewonnen hat, eine Prognose gegen die Elftal zu wagen, ist zugegebenermaßen riskant (und vielleicht auch der Grund, warum wir unser Geld nicht mit Sportwetten verdienen, sondern Onlinejournalismus machen müssen), aber wie bei Takeshi's Castle muss man halt manchmal mit dem Kopf zuerst durch die Tür springen, ohne zu wissen, ob sie aus Papier oder Sperrholz ist.
Also: Wenn eine Mannschaft denkbar schlecht dazu geeignet ist, die Klasse ihrer Spieler in einen Titelgewinn umzusetzen, dann ist es die Mannschaft von Bert van Marwijk. Denn bei keinem anderen Spitzenteam ist das Leistungsverhältnis von Offensive und Defensive so stark zugunsten der Angreifer geneigt wie bei der Elftal. Es gibt nach der bitteren Niederlage gegen Dänemark (mehr als 30 Torschüsse, davon aber locker 27 am Tor vorbei) nur noch zwei Szenarien, die einen Oranje-Titel ermöglichen würden:
a) Mit Joris Mathijsens Rückkehr und einigen Umstellungen (Heitinga ins Mittelfeld, Opfern eines Offensivspielers und 4-3-3) gewinnt die Elftal ihre defensive Stabilität zurück.
b) Das Angriffsspiel der Niederländer explodiert auf einmal, ob mit Van Persie und Huntelaar zusammen oder nicht, und urplötzlich ist es wieder möglich, Spiele in der Offensive zu entscheiden.
Beide Szenarien halten wir für unwahrscheinlich. Man muss das letzte Aufeinandertreffen in Hamburg nicht überbewerten, aber da die Elftal gegen Deutschland wohl gewinnen muss, um das Aus abzuwenden, spricht vieles dafür, dass die niederländische Viererkette der besten Kontermannschaft Europas nicht gewachsen sein wird.
3) Wie sind die Chancen der Gastgeber?
2000 schied zum ersten Mal eine Heimmannschaft bei EM oder WM in der Vorrunde aus - Belgien als Co-Gastgeber der Euro mit den Niederlanden. Seither hat dieses Schicksal auch Österreich und die Schweiz 2008 ereilt sowie bei der WM erstmals Südafrika vor zwei Jahren. Vor der aktuellen Euro wurde Polen erstaunlich positiv gehandelt. Kicker-Herausgeber Rainer Holzschuh spekulierte gar über ein Finale gegen Deutschland.
Nach dem 1:1 gegen Griechenland, den vermeintlich schwächsten Gruppengegner, ist aber selbst in der leichtesten EM-Gruppe der Einzug ins Viertelfinale nicht mehr sicher. Die Ukraine gewann zwar gegen Schweden mit 2:1, hat aber mit England und Frankreich noch zwei schwerere Gegner vor sich und machte in der Viererkette nicht eben den stabilsten Eindruck.
Eine stabile defensive Grundordnung sieht anders aus, und selbst wenn der Viertelfinaleinzug dank eines (Teil-) Erfolges gegen Frankreich oder England gelingen sollte, müsste schon viel passieren, damit die Zhovto-Blakytni im Viertelfinale gegen Spanien oder Italien bestehen können. Gegen beide Teams spielte die Ukraine (mit Oleg Blokhin als Trainer und mit der zumindest zur Hälfte gleichen Elf wie aktuell) bei der WM 2006 und kassierte sieben Gegentore.
4) Wer ist denn nun der logische Europameister?
So hoch und ausgeglichen war das Niveau vieler bisheriger Gruppenspiele, dass sich eine ganze Reihe von Teams nennen lassen, deren Titelgewinn zumindest keine Sensation wäre: Deutschland, die Niederlande (bei allen oben genannten Einwänden), Portugal, Spanien, Italien, Frankreich und mit Abstrichen Russland.
Dazu kommen Teams wie England, Polen und Kroatien, mit viel gutem Willen die Ukraine, denen eine Sensation theoretisch zuzutrauen wäre, wenn alles, aber auch wirklich alles ideal läuft. Und dann sind da Griechenland, Schweden, Irland, die Tschechische Republik und Dänemark, denen die Qualität im Kader für ein Turnier mit sechs erfolgreichen Spielen nach menschlichem Ermessen fehlt.
Engen wir unseren Blick auf die sechs bis sieben Favoriten ein, dann haben wir zu den Niederlanden und Russland schon detailliert Stellung genommen. Bleiben noch fünf Mannschaften, die wir in aller Kürze auf den Prüfstand stellen wollen.
Deutschland
Was spricht dafür? Verschiedene Spielstile sind möglich. Nach drei Halbfinals in Folge ist die Mannschaft eher noch besser geworden.
Was spricht dagegen? Schlüsselspieler Schweinsteiger nicht in Topform. Internationale Klasse jenseits des Bayern-Real-Blocks nicht belegt.
Portugal
Was spricht dafür? Cristiano Ronaldo, einer der besten Fußballer der Welt. Sehr gute Defensive mit Weltklassemann Pepe an der Spitze.
Was spricht dagegen? Kein torgefährlicher Mittelstürmer, kein Spielmacher = zu große Abhängigkeit von Ronaldo.
Spanien
Was spricht dafür? Bestes Mittelfeld der Welt, Startelf praktisch nur aus Weltklassespielern bestehend, Riesenerfahrung, hervorragender Trainer.
Was spricht dagegen? Etablierter Spielstil funktioniert bei Barcelona nicht mehr jederzeit, EM könnte in der Defensive entschieden werden.
Italien
Was spricht dafür? Trainer mit großer taktischer Intuition, Defensivverbund mit sechs Juventus-Spielern, die sich verstehen. Taktische Disziplin und Ausbildung der Spieler.
Was spricht dagegen? Bank nicht ganz so überzeugend wie bei Spanien und Deutschland. Unklar, wie mit Rückständen zu verfahren wäre.
Frankreich
Was spricht dafür? Offensive fast so gut wie Spanien, seit 22 Spielen ungeschlagen, dabei Siege gegen Deutschland, Brasilien, England.
Was spricht dagegen? Viererkette nicht Weltklasse. Nicht eingespielt: Startelf gegen England aus elf Clubs (Deutschland vier, Spanien vier).
Fazit
Wie man es dreht und wendet: Den klaren Favoriten gibt es, selbst wenn man unsere Annahmen über den Defensivcharakter des Turniers akzeptiert, nicht. Weder rational noch vom Gefühl her können wir uns zweifelsfrei auf eine Mannschaft festlegen. Nach dem Eindruck der ersten Spiele scheinen Deutschland, Spanien und Italien leichte Vorteile gegenüber dem Rest zu haben.
Die These, Deutschland sei "Titelfavorit Nummer eins", die wir dickhosigerweise am Samstag noch aufgestellt hatten, wurde durch das starke Spiel zwischen Spanien und Italien, eines der hochklassigsten Turnierspiele der letzten zehn Jahre, zugegebenermaßen in Frage gestellt. Aber wenn wir uns auf eine Mannschaft festlegen müssten? Deutschland. Nicht der logische Europameister. Aber ein logischer Europameister.
Daniel Raecke