
"Homo homini lupus": "Der Mensch ist des Menschen Wolf", vermeinte der römische Dichter Plautus einst. Soll heißen: Der einzige Feind des Menschen ist der andere Mensch. Der Wolf ist es jedenfalls nicht, da hatte der Mann Recht. Warum die Wölfe Bayern nicht gefährlich wurden, steht in der Taktikanalyse von sportal.de.
1) Homo bavarii lupus? Nicht im Geringsten
In J.R.R. Tolkiens Buch "Der Hobbit", das kürzlich in der Verfilmung von Peter Jackson im Kino lief, sind Wölfe noch Wölfe. Angetrieben von ihren orkischen Herren, aber auch aus reinem Blutrausch heraus, scheuen sie weder Feuer noch Felsbrocken, weder fragwürdig animierte Riesenadler noch uralte Elfenschwerter, sondern nehmen die Pfoten in die Hand und entsichern die Lefzen, bevor sie sich ein weiteres Mal auf schmackhafte Hobbits oder Zwerge stürzen.
Und wenn das Unterfangen dann gescheitert ist, was im High Fantasy-Genre am Ende ja immer so sein muss, dann hört man von diesen Wölfen nicht: "Mit dem 0:2 sind wir ganz zufrieden, diese Zwerge spielen einfach in einer anderen Liga als wir". Was man hört, ist stattdessen "Grrr, arf (sabber), aouuuuu!". Sinngemäß.
Mit diesen Prachtexemplaren der Wolfsgattung hatte der VfL Wolfsburg zumindest am Freitagabend nichts gemein. Dieter Hecking gab einen Saruman der vorsichtigeren Art und hatte Schadensbegrenzung als primäres Ziel ausgegeben. Damit steht der Defensivpapst der deutschen Trainerzunft nicht alleine, denn kaum noch ein Coach rechnet sich gegen den FC Bayern Siegchancen aus. Die reinen Ergebnisse geben den Münchner Gegnern auf den ersten Blick Recht, denn Offensivgefahr entsteht gegen das Bayern-Tor schon lange ohnehin nicht mehr.
Bevor wir uns der Frage zuwenden, was zuerst da war, der Wolf oder das Ei (ob Bayerns Defensive so stark ist, weil die Gegner zu viel Angst haben oder ob die Gegner Angst haben, weil Bayerns Defensive so stark ist), werfen wir einen anerkennenden Blick auf die nackten Zahlen. Als einzige Mannschaft in Europas großen fünf Ligen haben die Bayern 2013 noch kein einziges Gegentor kassiert.
Seit 609 Pflichtspielminuten musste Manuel Neuer nicht mehr hinter sich greifen - damals nach dem von Thorben Marx verwandelten Handelfmeter. Das letzte Gegentor aus dem Spiel heraus fiel im Champions League-Heimspiel gegen BATE Borisov durch eine Direktabnahme von Yegor Filipenko in der 89. Minute. Zum 1:4. Der einzige Schuss, den Manuel Neuer in Wolfsburg parieren musste, war Diegos Freistoß in der zweiten Spielhälfte. Aus dem Spiel heraus fand zuletzt vor 281 Minuten ein Ball den Weg aufs Bayern-Tor: ein Schuss von Tunay Torun bei Stuttgarts 0:2 gegen die Bayern im Januar.
Die irrwitzige Auswärtsbilanz der Münchner Defensive in der Bundesliga steht bei einem einzigen Gegentor in der gesamten Saison. Das immerhin verantwortet von Dieter Hecking, beim 1:1 von Markus Feulner in Nürnberg zum Endstand Mitte November. Doch in Wolfsburg konnte auch Hecking diesmal keinen Treffer bejubeln. Warum denn eigentlich nicht?
2) Der Vergleich Bayern - Barcelona. Oder Bayern - Takeshi's Castle.
Die auffälligste Änderung im bayerischen Spiel gegenüber der Vorsaison besteht wohl im eindrucksvollen Gegenpressing im Besonderen, und im Verhalten bei gegnerischem Ballbesitz im Allgemeinen. Das war auch gegen Wolfsburg zu bewundern (VfL Wolfsburg - Bayern München: Einzelkritiken und Noten). Mario Mandzukic hielt sich dann oft zwischen Ball und eigenem Tor auf, alle anderen Bayern sowieso. Wer bisher noch nie verstanden hat, was Doktor Fußball meint, wenn er "Überzahl in Ballnähe" sagt, der kann nach Ansicht des Videos von Wolfsburg - Bayern bald leicht selbst einen auf taktische Hose machen.
Immer wieder verschoben die Bayern in allen Ecken des Platzes so stark zum ballführenden Wolfsburger hin, dass ich mich mehrmals bei Kollegen in der Redaktion erkundigen musste, ob ich durch etwaigen Sekundenschlaf ein bis zwei Wolfsburger Platzverweise verpasst hatte. Wobei Wolfsrudelbildung eher untypisch gewesen wäre, siehe oben.
Wenn ein furchtloser Wolf einmal mit dem Ball die Mittellinie überquerte und es wie bei Takeshi's Castle in die Nähe der gegnerischen Festung geschafft hatte, so blühte ihm das gleiche Schicksall wie den bemitleidenswerten Teilnehmern jener legendären japanischen Gameshow: Sie scheiterten in Sichtweite des begehrten Ziels. Es wurden übrigens insgesamt 133 Episoden von Takeshi's Castle ausgestrahlt, in denen es von über 10.000 Mitspielern nur neun schafften, das Spiel zu gewinnen. Erinnert irgendwie an die Chance, ein Tor gegen Manuel Neuer zu erzielen.
In Sachen Spiel ohne Ball scheint es, als agiere der FC Bayern jetzt schon auf einem Niveau mit Barcelona, der ultimativen Messlatte für die Münchner. Bei eigenem Ballbesitz kann man noch nicht von der gleichen Klasse sprechen, aber die Tendenz stimmt. Dass Bayern selbst nur nach einem Standard und in der Nachspielzeit traf, spricht in diesem Fall nicht gegen das Offensivpersonal der Mannschaft, sondern für das ökonomische Maß, mit dem man angesichts bevorstehender Spiele gegen Arsenal, Bremen und Dortmund in den nächsten eineinhalb Wochen die Pflichtaufgabe bewältigte.
Wie Barcelona spielt Bayern in dieser Saison in einer eigenen Liga - so sehr, dass der immer wieder leichtfertig geäußerten Behauptung, die Bundesliga sei so ausgeglichen, Hohn gesprochen wird. Sie stimmte schon in den letzten beiden Dortmunder Meisterjahren nicht, und in der laufenden Spielzeit schon gar nicht mehr. 2010/11 war der Tabellensechste am Ende punktemäßig dichter an Platz 18 als an Platz zwei, ein Jahr später der Fünfte näher an einem Abstiegsplatz als an Platz zwei, und aktuell ist Platz fünf wieder näher an Fürth als an Bayern. Auch das sind spanische Verhältnisse.
3) Bastian Schweinsteiger. Oder sportal.de leistet Abbitte.
Der liebe Gott (oder ein Kreationsmechanismus Ihrer Wahl) hat seine Huld nicht gleichmäßig über alle Profifußballer verstreut, die für die Nominierung als deutscher Nationalspieler in Frage kommen. Sei es, weil er sich schon was dabei gedacht hat, sei es, weil er in Wahrheit unter einem Seidentuch verdeckt irgendwo im Weltall von morgens bis abends Flöte spielt, oder weil alles sowieso keinen Sinn ergibt - der DFB hat momentan für die drei Positionen im zentralen Mittelfeld fünf Spieler von Weltklasse oder Weltklassepotenzial zur Verfügung: Mesut Özil, Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Ilkay Gündogan.
Erst vorige Woche haben wir Gündogans Form über den grünen Klee gelobt und Bastian Schweinsteiger wenn schon keinen Platz auf der Bank, so doch einen Konkurrenzkampf um seine Position neben Khedira vorausgesagt. Und jetzt? Nach Schweinsteigers Leistung in Wolfsburg, an der fast alles stimmte - Laufwege, Ballgewinne, Pässe in die Schnittstellen, Antritte, Grundtechnik - stellt sich die Frage: Wer ruft bei Familie Khedira an und überbringt ihr die Nachricht? Nein, so weit wollen wir nicht gehen, zumal es an Khediras Leistung ebenso wenig auszusetzen gibt. Fakt ist aber, dass es mit Ausnahme eines 4-3-3 ohne echten Stürmer (mit Özil als falscher Neun) kaum ein System gibt, das den gleichzeitigen Einsatz aller drei Zentralen erlaubte.
Das ist umso ärgerlicher, als die oben angesprochene Huld nicht auf allen deutschen Mannschaftsteilen niedergegangen ist wie ein Meteorit über Westsibirien, sondern Positionen wie Linksverteidiger von den Einschlägen fast völlig verschont geblieben sind. Das Tal der Ahnungslosen, gewissermaßen. Auch im innersten Heiligen der Viererkette gibt es Problemzonen, womit wir beim nächsten Thema sind:
4) Und jetzt Arsenal - was geht da, und hat es irgendetwas mit Wolfsburg zu tun?
Ach ja, die Bundesliga. Eben noch die Nummer eins in Europa, mit den "Glorreichen Sieben" im Europapokal. Nach einer Woche mit null Siegen aus fünf internationalen Spielen sieht das schon ganz anders aus. Auch ohne gegen eine englische oder spanische Mannschaft gespielt zu haben, stehen alle vier deutschen Europa League-Clubs vor den Rückspielen vor dem Aus. Alle drei Teams, die auswärts ran müssen, müssen mindestens ein Tor erzielen, Hannover zu Hause ein 1:3 gegen Anzhi Makhachkala drehen. Dortmund geht immerhin als Favorit gegen Shakhtar ins Rückspiel.
Schalke ist in der aktuellen Verfassung gegen Galatasaray nicht wirklich eine Bank. Bleibt der FC Bayern, der sich so gern als einzig würdiger Vertreter der Bundesliga in Europa sieht. Das aktuell aber auch zu Recht, denn Arsenal geht als klarer Außenseiter ins Hinspiel am kommenden Dienstag in London. Die beste Mannschaft, gegen die die Gunners in ihren letzten 40 Pflichtspielen zu null gespielt haben, ist Swansea City. Nicht wirklich das gleiche Level wie Bayern. Keine Mannschaft in Europas Topligen kassiert einen so großen Anteil ihrer Gegentore nach individuellen Fehlern.
Das liegt daran, dass der Viererkette mit Bacary Sagna, Per Mertesacker, Thomas Vermaelen und KIeran Gibbs ein überragender Spieler fehlt (bei allen Verdiensten Vermaelens spielt auch er nicht gerade eine fehlerlose Saison), und die Mannschaft mit Jack Wilshere im Mittelfeld nur einen wirklich unumstrittenen Klassemann besitzt. Von der Spielweise her ist Arsenal allerdings mit Wolfsburg nicht zu vergleichen. Zumal in einem KO-Heimhinspiel wird Arsène Wenger sicher nicht auf kompakte Defensive vor allem anderen setzen.
5) Hatte Wolfsburg überhaupt einen Plan B?
Wie schon oben angesprochen: Wolfsburgs defensiver Grundordnung ist im Prinzip kein Vorwurf zu machen. Auch wenn die Körpersprache vieler Spieler selbst kurz vor dem 0:2 in der Nachspielzeit nicht wie die von Profis wirkte, die einen knappen Rückstand noch ausgleichen wollen - die Niederlage auf eine Frage der Psyche zu reduzieren, wäre alberner Populismus. Mit den vorhandenen Spielern konnte der VfL gegen eine Mannschaft der aktuellen Bayern-Klasse das Spiel nicht dominieren, Wille hin oder her.
Das Team ist in solchen Konstellationen zu abhängig von Diego. Wenn der dann auf ein sehr starkes defensives Mittelfeld trifft (das in seinem problemlosen Ersatz Javi Martínezs durch Luiz Gustavo nebenbei bewies, selbst nicht so von Einzelspielern abhängig zu sein), und sein Genie nicht zum Tragen kommt, dann gibt es nur wenige Alternativen. So stellt sich die Frage, welche Rolle eigentlich Bas Dost spielen sollte? Der Niederländer war vorne allein auf weiter Flur, Wolfsburg stand tief, Bayern stand hinten gut und hatte mit Dante und Daniel van Buyten zwei extrem kopfballstarke Innenverteidiger.
Aber selbst, wenn Dost mal ein Kopfballduell gewonnen hätte - was hätte daraus entstehen können? So zaghaft rückten die Wölfe auf, so gut ordneten die Bayern ihre Reihen, dass Dost mit einer Ablage kaum einen eigenen Mann hätte finden können. Spätestens zu Beginn der zweiten Hälfte war klar, dass Dost als einzige Spitze nicht der Weg war, um Bayerns souveräne Defensive unter Druck zu setzen. Auf der Bank saßen mit Ivan Perisic und dem gerade nach langer Verletzungspause zurückkommenden Patrick Helmes zwei Stürmer sowie mit Simon Kjaer, Josué, Fagner und Ricardo Rodriguez vier eher defensive Feldspieler.
Helmes wurde für die letzte Viertelstunde in die Spitze geschickt und berührte schätzungsweise alle fünf Minuten einmal den Ball. Perisic hatte nach Diegos von Neuer abgewehrtem Freistoß die größte VfL-Chance im ganzen Spiel, traf den Ball aber nicht richtig. Einen spielstarken Mittelfeldspieler, der dem Bayern-Mittelfeld Paroli hätte bieten können, hatte Wolfsburg schlicht und einfach nicht mehr in der Hinterhand.
So versuchte man es gar nicht wirklich, den Punkt um jeden Preis zu erzwingen - bis in die Nachspielzeit, als nach einem eigenen Standard, den Diego Benaglio ausführte, die defensive Grundordnung nach Ballverlust gar nicht mehr gesucht wurde. Alexander Madlung blieb einfach vorne, Naldo organisierte den Rest der Abwehr nicht mehr - und Thomas Müller nutzte das zu einem klugen Pass auf Arjen Robben, der zum 0:2 traf.
Etwaige Kritik an zu defensiver Spielweise des VfL oder der anderen Bayern-Gegner ist also verfehlt - wie auch die harschen Urteile über Schalke, das inmitten einer Krise und ohne Klaas-Jan Huntelaar, Jefferson Farfán, Julian Draxler, Kyriakos Papadopoulos und den gerade verkauften Lewis Holtby in München "zu mutlos" gewesen sei. Schalke ist desolat - aber nicht wegen der Niederlage in München, sondern der Niederlage gegen Fürth.
Bayern spielt momentan einfach nicht in der gleichen Liga. Bei der einzigen Saisonniederlage in der Bundesliga gegen Leverkusen spielte Bayer 04 die Münchner auch nicht an die Wand, sondern hatte weniger als ein Drittel Ballbesitz, ein Torschussverhältnis von 5:25 und 2:14 Ecken. Schließlich versucht auch niemand, das Spiel gegen Barcelona zu dominieren. Außer Tolkiens Wölfen. Überlebt haben sie es nicht.