
José Mourinho hat einige Fehler gemacht vor dem Spiel in München. Was er im Rückspiel anders machen muss, warum Bayern so überlegen war und wieso Mesut Özils Leistung von vielen überschätzt wird, das sind einige der Themen in unserer Taktikanalyse des Champions League-Abends.
Bayern gegen Real Madrid - ein größeres und traditionsreicheres Spiel gibt es im europäischen Clubfußball nicht. Die Münchner gewannen verdient das Hinspiel mit 2:1 gegen einen Gegner, der in den letzten sieben Monaten sonst nur gegen Barcelona überhaupt ein Fußballspiel verloren hatte. Eine tolle Leistung schon das. Aber warum genau waren sie die bessere Mannschaft? Dieser Frage gehen wir ebenso nach wie einem Ausblick aufs Rückspiel.
1) Ausnahmsweise waren "Gier" und "Leidenschaft" nicht unwichtig in einem Spiel auf diesem Level
Profitrainer, die in den Medien detailliert über ihre taktischen Erwägungen sprechen, sind ungefähr so selten wie Sterneköche, die ihre Rezepte gratis ins Internet stellen. Man darf also hoffen, dass Jupp Heynckes in der Kabine noch anderes gesagt hat als nur Appelle an die "Gier" seiner Spieler loszuwerden. Profis selbst reden auch oft über die Einstellung als Schlüsselfaktor für Spiele, was in den Medien ebenso im Übermaß reproduziert wird wie von den Fans ("Wir wollen Euch kämpfen sehen").
Wenn mentale Fragen wirklich relevant wären, dann gäbe es eigentlich gar keinen Grund dafür, warum Topteams mit den besten Fußballern wie Barcelona so viele Titel gewinnen, wenn doch auch der FSV Frankfurt mit der richtigen Einstellung dagegenhalten könnte. Im Hinspiel zwischen Bayern und Real Madrid gab es aber einen externen Faktor, der die Herangehensweise der beiden Mannschaften prägte: der Clásico am kommenden Wochenende.
Offensichtlich gingen die Madrilenen das Spiel mit einer gewissen Zurückhaltung an. Ihnen war das Bemühen anzusehen, mit ökonomischem Haushalten ein akzeptables Ergebnis zu erzielen, um das wichtigere Spiel am Samstag nicht zu gefährden. Im Rückspiel könnte man das Halbfinale ja immer noch entscheiden. Und kann es auch noch.
Im Gegensatz dazu war Bayerns Power beeindruckend - was die Laufarbeit aller Spieler anging, das Nachsetzen, die Ballgewinne und den Kampf bis zum Schlusspfiff, der letzten Endes den Sieg erbrachte. Kein Wunder, war dieses Heimspiel doch ein Alles-oder-Nichts-Match für die Münchner, da die Saison bei einer Niederlage zu Hause gegen Madrid praktisch schon jetzt auf die Hoffnung auf den Trostpreis DFB-Pokal reduziert worden wäre.
Was jedoch nicht heißt, dass taktische Faktoren gar keine Rolle gespielt hätten, denn...
2) José Mourinho hatte seine Mannschaft nicht optimal auf Bayern eingestellt
Selten sieht man ein Mourinho-Team, das so viele Probleme im zentralen Mittelfeld hat wie Real am Dienstagabend in München. Die Mannschaftsteile harmonierten über weite Strecken nicht gut miteinander. Die Offensivspieler arbeiteten nicht genügend mit nach hinten, die Viererkette stand tief, die Sechser fanden zu wenige Anspielstationen. Das lag einerseits an der Personalie Mesut Özil, zu der wir unten noch kommen werden, aber auch daran, dass die Abstände nicht immer stimmten.
Die Folge waren einerseits auffällig viele Ballverluste von Xabi Alonso und Sami Khedira, andererseits sehr viele hoch nach vorne gespielte Bälle von hinten heraus, was die Ballkontrolle nicht förderte. Das Positionsspiel der Offensiven war variabel genug, um Bayern in der ersten Hälfte einige Probleme zu bereiten, weil Karim Benzema sich mal links, mal rechts orientierte, während Cristiano Ronaldo und Angel di Maria gerne nach innen zogen, aber selten einmal über die Flanken Angriffe vortrugen.
Insgesamt viermal änderte Mourinho während des Spiels seine Taktik im Mittelfeld: Erst rückte Özil nach rechts und Di Maria nach innen, dann kehrte Özil zurück auf die Zehn und Di Maria wieder auf den Flügel, dann ging Özil aus dem Spiel, Marcelo rückte nach links, Ronaldo nach rechts und Di Maria wieder in die Mitte, schließlich kam Esteban Granero als dritter Sechser für Di Maria. Dass diese Maßnahmen das Spiel zugunsten seiner Mannschaft beeinflusst hätten, lässt sich nicht feststellen.
Immerhin aber wurde die merkwürdige Entscheidung, große Abstände zwischen Defensive und Offensive zu belassen, beim Ausgleichstor belohnt: Nur sechs Feldspieler der Gäste verteidigten, als Bastian Schweinsteiger am Strafraum den Ball verlor. So konnte der Konter, der auf Umwegen zum 1:1 führte, von vier Madrilenen gefahren werden.
3) Die Außenverteidiger kamen anders ins Spiel als erwartet
Das Angriffsspiel Real Madrids über die linke Seite ist zu Recht gefürchtet. Das Zusammenspiel Ronaldos mit Marcelo hat schon so manches Spiel entschieden. Um so signifikanter die Entscheidung Mourinhos, Fabio Coentrao auf die Linksverteidigerposition zu stellen und Marcelo zunächst auf der Bank zu lassen. Wie spanische Medien betonten, die Lösung zugunsten der größeren defensiven Stabilität.
"Werch ein Illtum", um mit Ernst Jandl zu sprechen. Gerade Coentrao hatte viele Probleme im Zweikampfverhalten und ließ sich schließlich in der Schlussminute in spielentscheidender Weise von Philipp Lahm verladen. Nach vorne blieben die Impulse des Portugiesen vernachlässigenswert, selbst Alvaro Arbeloa brach auf der gegenüberliegenden Seite öfter zu überlappenden Läufen auf, und das will schon was heißen.
Anders Lahm, der im Großen und Ganzen ein sehr gutes Spiel machte, wenn man bedenkt, dass er über weite Strecken des Spiels einen der besten Fußballer der Welt als Gegenspieler hatte. Beim Gegentor sah der Münchner Kapitän schlecht aus, und das in der ganzen Szene. Ansonsten aber bestach Lahm durch Ballgewinne und viele gefährliche Vorstöße, deren gefährlichster seine Leistung mit der Vorbereitung des Siegtors krönte. Demgegenüber war diesmal David Alaba, in Dortmund noch der aktivere der beiden Außen, diesmal von seinen Defensivaufgaben zu eingenommen, um viele Impulse für den Angriff zu geben.
4) Das Missverständnis Mesut Özil
Nicht zum ersten Mal wird in Deutschland eine sehr stark filternde Brille aufgesetzt, wenn es um die Bewertung Mesut Özils und seine Bedeutung für Real Madrid geht. Ob im ZDF einst Mourinho ein "taktischer Fehler" attestiert wurde, weil er ohne den Deutschen spielte (mit ihm hatte Madrid 0:5 gegen Barcelona verloren, ohne ihn unentschieden gespielt), oder ob auf Sky die These aufgestellt wird, die Auswechslung Özils sei für die Niederlage der Madrilenen in München verantwortlich: Gerne applaudiert man nur den offensiven Leistungen des Spielmachers und sieht die negativen Aspekte seines Spiels nicht.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Özil ist ein großer Fußballer, wohl der beste Techniker, den es in Deutschland zur Zeit gibt. Seine Qualitäten sollen hier nicht pauschal bestritten werden. Aber es gibt Spiele, in denen Özil ein Problem für Real Madrid darstellt. Und dieses Spiel war so eines. Sicher hatte er gute Offensivszenen. Aber in 70 Minuten brachte er keine 20 Pässe an den Mann, und nach hinten arbeitete Özil wie gewohnt eher lethargisch mit, was zur oben angesprochenen Unterzahl Madrids im Mittelfeld führte.
Vergleicht man Özils Spiel mit dem von Toni Kroos, dem nominell anderen Zehner des Spiels, ergibt sich ein interessantes Bild. Kroos half bei gegnerischem Ballbesitz immer mit nach hinten aus, was um so wichtiger war, als Schweinsteiger nicht gut ins Spiel fand. Dass Özil die geringste Laufstrecke aller Spieler auf dem Platz verbuchte, laut den Statistiken der UEFA, wird durch seine Auswechslung in der 70. Minute etwas relativiert. Und da er persönlich das 1:1 erzielte, mutet es komisch an, ihn als Grund für die Niederlage anzuführen. Zumal er am 1:0 nach Ecke keine Schuld trug und beim 2:1 schon nicht mehr spielte.
Aber Fußball wird nur auf den ersten Blick nur durch die tatsächlich erzielten Tore entschieden. Ein Spiel dauert bekanntlich 90 Minuten, und in diesen 90 Minuten die Möglichkeit für Torchancen des Gegners zu reduzieren, ist gerade gegen eine Elf wie Real Madrid essentiell. Bei dieser Aufgabe half Özils Rolle den Bayern.
5) Real Madrid ist immer noch Favorit auf den Finaleinzug
Franz Beckenbauer bekundete nach dem Spiel auf Sat 1, er habe die Chancen der Bayern vor dem Spiel bei "50:50" gesehen, inzwischen schätze er sie auf "60:40" für die Münchner. Das ist sehr optimistisch. Dass die Chancen stark gestiegen seien, kann man eigentlich nur sagen, wenn man im Vorhinein nicht mit einem Bayern-Heimsieg gerechnet hatte. Dann aber wäre es wohl kaum ein 50-50 gewesen.
Wie dem auch sei, warum sehen wir Madrid auch nach dem Hinspiel noch im Vorteil? Wäre das Mario Gomez-Tor in der 90. Minute nicht gefallen, müsste man diese These wohl nicht erklären. Von 26 Heimspielen in dieser Saison hat Real Madrid 21 gewonnen und nur zwei gegen Barcelona verloren. Mit Ausnahme Barcelonas haben es nur zwei Gästeteams dabei geschafft, weniger als drei Gegentore zu kassieren.
Nun lässt sich einwenden, Bayern sei ja auch nicht irgendwer. Stimmt natürlich. Wir wollen nicht darauf wetten, dass es am nächsten Mittwoch einen Kantersieg gibt. Nur reicht leider schon ein 1:0. Die Eindrücke des Hinspiels lassen sich insgesamt in zwei Richtungen interpretieren: Dass Bayern besser war, kann man als Hoffnung erweckendes Indiz fürs Rückspiel lesen. Man kann aber auch finden, dass eine taktisch schlecht eingestellte Madrider Mannschaft, die schon halb an den Clásico dachte, immer noch fast mit einem 1:1 nach Hause gefahren wäre. Und dass man José Mourinho in seiner Karriere bisher schon viel vorwerfen konnte - aber nicht, dass er die gleichen taktischen Fehler zweimal macht.
Daniel Raecke