
Jedes Scheitern birgt die Chance auf einen Neuanfang - Belgien ergriff sie 2002, zog die Lehren aus dem sportlichen Absturz, setzte auf die Jugend und wird nach entbehrungsreichen Jahren mit einer goldenen Fußballer-Generation belohnt, die sportliche und sogar politische Erfolge feiert.
Manchmal kommt offenbar auch Marouane Fellaini der aktuelle Erfolg des belgischen Fußballs ein wenig unheimlich vor. So richtig erklären kann jedenfalls auch er nicht, warum seine Nationalmannschaft nach so vielen mageren Jahren, nach etlichen verpassten Qualifikationen für große Turniere endlich wieder auf einer Welle des Erfolgs schwimmt, in der FIFA-Weltrangliste mittlerweile sogar an Brasilien vorbeigezogen ist.
Die Roten Teufel haben sich in beeindruckender Manier (25 Punkte, 17:3 Tore) in der Gruppe A mit Kroatien, Serbien, Schottland, Mazedonien und Wales für die WM 2014 qualifiziert. Erstmals seit 2002 sind Les Diables Rouges damit wieder bei einem großen Turnier dabei und belgische Fußballer bei internationalen Clubs ohnehin so begehrt wie vielleicht niemals zuvor. "Wir haben Vincent Kompany, Moussa Dembéle, Thomas Vermaelen, Jan Vertonghen, Eden Hazard, Romelu Lukaku, Christian Benteke", zählte er auf der Suche nach Gründen im Gespräch mit esquire.co.uk einige der Namen auf, die internationale Experten derzeit unter dem Oberbegriff Goldene Generation zusammenfassen.
Addiert man die Transfersummen ihrer Einzelspieler, gehört die belgische Nationalmannschaft zu den Top Fünf der wertvollsten Auswahlteams weltweit. Chelsea kaufte beispielsweise Toptalent Eden Hazard für 40 Millionen Euro, Zenit St. Petersburg ließ sich vor einem Jahr die Dienste von Mittelfeldspieler Axel Witsel die gleiche Summe kosten. Fellaini wechselte kurz vor Schluss der letzten Transferperiode für 32 Millionen von Everton zu Manchester United.
Jahrtausendwende: Belgien verliert Anschluss an die Weltspitze
Die zahlreichen Topspieler bilden die Basis für den Erfolg der Nationalmannschaft. "Ein Grund ist natürlich, dass wir schon lange zusammen spielen", mutmaßte Fellaini und führte den Halbfinaleinzug bei Olympia 2008 an, als sich Belgien erstmals international wieder zurückmeldete. Die damalige Olympiamannschaft bildet den Kern der heutigen A-Auswahl und ist entsprechen gut aufeinander abgestimmt. "Das war vielleicht der Start. Aber ich denke, es gehörte auch viel Glück dazu."
Der eigentliche Startschuss für diese Entwicklung fiel allerdings schon einige Jahre vor Olympia und hatte mit Glück eher weniger zu tun gehabt, sondern eher mit einer sportlichen Bankrotterklärung. Das peinliche Vorrunden-Aus bei der Heim-EM 2000 und der uninspirierte Auftritt bei der WM 2002 hatten den Verantwortlichen im belgischen Fußball schmerzhaft die Augen darüber geöffnet, was sich schon seit der WM 1990 in Italien immer deutlicher abgezeichnet hatte: Belgien hatte taktisch und technisch endgültig den Anschluss an die Weltspitze verloren.
Eine der großen Mannschaften der 1980er Jahre und eine Konstante im Weltfußball, die 1980 noch im EM-Finale gestanden hatte und bei der WM 1986 bis ins Halbfinale gestürmt war, stand "vor dem Nichts", wie sich in der Sportsmail Michel Sablon, der Technische Direktor des Verbandes, erinnerte. "Unser U17- und unser U19-Team rangierten irgendwo zwischen Platz 23 und 28 in der Welt, also im Niemandsland." Dafür, dass sich daran ohne Weiteres etwas ändern könnte, gab es keinerlei Anzeichen. Einen Star wie einst Franky Vercauteren, Eric Gerets, Enzo Scifo oder auch Jean-Marie Pfaff hatte Belgien schließlich schon lange nicht mehr hervorgebracht.
Sablons Masterplan für die Zukunft des belgischen Fußballs
Es musste gehandelt werden, möglichst schnell, aber vor allem musste tiefgreifend reformiert werden. 1986 hatte Sablon noch als Mitglied des Trainerstabs persönlich den größten Erfolg der Nationalmannschaft mitverantwortet, nun initiierte er auf Funktionärsebene den Neuaufbau. Nach intensivem Austausch mit den Verbänden Frankreichs, der Niederlande und Deutschlands und Studium der dortigen Projekte zur Talentsichtung und Jugendförderung erarbeiteten drei Arbeitsgruppen unter seiner Führung einen Maßnahmenkatalog für Club-, Nationalteam- und Schulfußball. Den Masterplan, der den belgischen Fußball wieder konkurrenzfähig machen sollte.
"Der Verband beschloss eine Reorganisation der Nachwuchsförderung, baute in allen Provinzen Elite-Akademien auf", erläuterte Nachwuchscoach Michael Bruyninckx bei CNN. Die Umsetzung des ehrgeizigen Plans klappte in den verbandseigenen Zentren und öffentlichen Schulen dank der Mithilfe des Bildungsministeriums schnell. Eine Lehrplanänderung ermöglichte es Fußballtalenten, auch an den Schulen zu trainieren. "Das bedeutete, dass ungefähr 20 Trainingsstunden pro Woche zur Verfügung stehen, sonstige Fächer aber trotzdem nicht zu kurz kommen."
Die belgischen Clubs mussten erst überzeugt werden
Die Verhandlungen mit den Clubs erwiesen sich allerdings als deutlich schwieriger. "Wir gingen auch zu ihnen und baten sie, in ihren Jugendteams unterhalb der U18 ein flexibles 4-3-3-System einzuführen", erinnerte sich Sablon. Jeder Spieler sollte schon in frühen Jahren seine Position im Team, seine feste Aufgabe kennen und verinnerlichen. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit und "so fünf, sechs Jahre", bis auch die Clubs sich von den vielversprechenden Aussichten dieses Talentförderungskonzeptes überzeugen ließen und auf die Verbandslinie schwenkten.
Die großen Clubs wie RSC Anderlecht, Standard Lüttich, Club Brügge, aber auch der kleinere Verein Germinal Beershot investierten in ihre Jugendarbeit. Letzterer profitierte dabei auch von seiner langjährigen Kooperation mit Ajax Amsterdam und deren Knowhow als Talentschmiede. Und sie feierten Erfolge. Die intensive Nachwuchsförderung sorgte für einen bis heute nicht abreißenden Strom an hochtalentierten Spielern, der den Stammclubs ein auch auf längere Sicht lukratives Geschäftsfeld eröffnete.
Viele aufstrebende Talente verlassen die schwache heimische Jupiler League früh und wagen den Absprung ins Ausland. Nach Spanien, Italien, aber bevorzugt in die Premier League - ein gutes Dutzend spielt derzeit dort - , wo sie sich persönlich, aber natürlich auch zum Wohle der belgischen Nationalmannschaft fußballerisch weiterentwickeln. Was diese neue Goldene Generation zu leisten im Stande sein würde, zeigte sich erstmals bei der U17-EM 2007, als die belgische Mannschaft um Eden Hazard und Christian Benteke erstmals in ihrer Geschichte ins Halbfinale einzog.
Belgien: exzellenter Kader mit perfekter Alterstruktur
Mit 22 Jahren hat Hazard den Sprung vom Talent zum Star mittlerweile vollzogen. "Er ist ein Schlüsselspieler bei Chelsea, hatte vorher schon Lille zur französischen Meisterschaft geführt", lobte Belgiens Legende Enzo Scifo im Guardian. Zusammen mit Kevin de Bruyne, Steven Defour, Dries Mertens, Fellaini und Witsel gehört er zum auch in der Breite hochklassig besetzten Mittelfeld, das in Europa seinesgleichen sucht. Nationaltrainer Marc Wilmots, seit Juni 2012 im Amt, hat auf allen Positionen in seinem auch in der Alterstruktur gut ausbalancierten Kader die Qual der Wahl.
Im Tor setzen mit Thibaut Courtois, Nummer eins bei Atletico Madrid, und Simon Mignolet, Stammkeeper in Liverpool, zwei der besten europäischen Torhüter die einst von Pfaff und Michael Preud'homme begründete Tradition starker belgischer Schlussmänner fort. In der Abwehr sorgen Man City-Kapitän Kompany, Vermaelen und die sowohl innen als auch außen verteidigenden Vertonghen und Toby Alderweireld für Stabilität. Im Sturm versetzen Benteke, Romelu Lukaku oder auch Kevin Mirallas gegnerische Verteidiger in Angst und Schrecken.
Beweis genug für den Erfolg seines Systems findet Sablon laut esquire.co.uk. "In der Vergangenheit hatten wir vielleicht vier oder fünf Spieler, die gegen die großen Nationen mithalten konnten, mittlerweile hat sich die Zahl nahezu verdoppelt." Und es drängen weitere nach, wie der erst 16-jährige Youri Tielemans, der für Anderlecht bereits in der Champions League debütierte. Die personellen Voraussetzungen sind erstklassig und auch die Automatismen in Wilmots' 4-3-3 greifen. Sein Team spielt modernen Hochgeschwindigkeitsfußball, der Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft der belgischen Nationalmannschaft macht.
Nationalteam sorgt für neues Einheitsgefühl in Belgien
Doch der Erfolg seiner Mannschaft geht weit über das Sportliche hinaus. Belgien ist gespalten in einen niederländisch sprechenden flämischen und einen französisch sprechenden wallonischen Teil gespaltenen. Die belgische Nationalmannschaft hat einen gemeinsamen Nenner geschaffen, auf den sich die rivalisierenden und unverhohlen auch nach Unabhängigkeit strebenden Volksgruppen verständigen können. Die kulturellen und politischen Unterschiede spielen zumindest beim Thema Fußball und der Unterstützung der Nationalmannschaft keine Rolle mehr.
Genauso wenig wie in der heutigen Nationalmannschaft selbst. "Viele von uns waren bei Olympia in Peking dabei, wir haben als 18-, 19-, 20-, 21-jährige zusammen im Dorf gelebt, uns ganz genau kennengelernt und wir hatten ein gutes Turnier gespielt", erinnerte sich Fellaini. Das verbindet und hilft Grenzen und Gegensätze zu überwinden. Angesichts des hohen Anteils an Spielern mit Migrationshintergrund und afrikanischen Wurzeln im Nationalteam, tritt der Dualismus zwischen Flamen und Wallonen anders als noch vor Jahren ohnehin in den Hintergrund.
Sollte diese Goldene Generation weiter Erfolg haben und auch bei der WM 2014 in Brasilien eine gewichtige Rolle spielen, könnte das auch weitreichende soziale Auswirkungen bekommen und zu einem weiteren Zusammenwachsen der Nation führen, das die tradierten Animositäten noch mehr in den Hintergrund drängen wird. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Aber die Mannschaft liefert ein positives Beispiel dafür, dass die Stärke einer Nation eben gerade auch in ihrer Vielfältigkeit liegen kann. "Das wäre ein Traum", erklärte Eden Hazard und meint vielleicht mehr als nur ein positives Abschneiden bei der WM.