
Kaum ein Stadion ist zu einem solch mythischen Ort geworden wie das Wembley Stadium in London, in dem am Samstag das Finale der Champions League stattfindet. sportal.de hat einen Blick auf Legenden und lustige Momente des englischen Wahrzeichens geworfen.
Es ist ein Jahr der Festtage für den englischen Fußball. Nein, nicht zwingend für das, was dort auf dem Rasen passiert - sondern für das Drumherum. Der englische Verband FA (Football Association), der älteste der Welt, wird 2013 150 Jahre alt, die Heimat der Nationalmannschaft sowie der Pokalfinals, das Wembley Stadium, wird 90 Jahre jung.
Natürlich stimmt auch das nicht ganz, denn das heutige Stadion hat nach dem Neubau in den Jahren 2003 bis 2007 natürlich kaum noch etwas mit der Arena gemein, die die meisten Deutschen entweder mit dem weltbekannten Wembley-Tor oder Oliver Bierhoffs Golden Goal im EM-Finale 1996 verbinden. Aber beginnen wir am Anfang - im Jahr 1923.
Das White Horse Final oder eben Fußball für 220.000 Fans
Eigentlich beginnt die Geschichte sogar schon ein Jahr zuvor. 1922 nämlich beschloss die Stadt London, eine Art Weltausstellung für das British Empire auszurichten, und dazu musste ein ordentliches Stadion her. Gesagt, getan - 300 Tage später, am 28. April 1923 öffnete das Wembley Stadium, damals noch Empire Stadium genannt, zum ersten Mal seine Pforten, um knapp 120.000 Menschen Zutritt zum FA-Cup-Finale zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United zu gewähren. Doch dabei hatten die Veranstalter die Rechnung ohne die sportverrückten Briten gemacht.
126.047 Menschen wurde Einlass gewährt, dann wurden die Tore geschlossen - was aber weitere knapp 100.000 Fans nicht daran hinderte, sich über Zäune und Absperrungen hinweg Zutritt zu verschaffen. Augenzeuge Denis Higham, zum Zeitpunkt des Spiels acht Jahre alt, erinnerte sich vor kurzem gegenüber der Zeitschrift Elf Freunde:' 'Es war abenteuerlich. In dem Chaos habe ich meinen Vater verloren. An Fußball war nicht zu denken.'' Doch es gab eine Rettung - und die war sozusagen im Antrab.
Denn neben vielen anderen Polizisten war auch der berittene Police Constable George A. Scorey mit im Stadion - inklusive seines Pferdes, des Schimmels Billy. Und eben jener Schimmel schaffte es, die Zuschauer zumindest so weit zurückzudrängen, dass das Spielfeld in seiner Ganzheit sichtbar wurde und das Spiel nach der verspäteten Ankunft von König George V. angepfiffen werden konnte. Und so ging dieses erste Spiel im neuen Stadion als das White-Horse-Final (das Weiße-Pferd-Finale) in die Annalen des englischen Fußballs ein.
Natürlich lief auch sonst wenig perfekt an diesem Premierentag - das entscheidende 2:0 der Wanderers soll von einem Zuschauer eingeleitet worden sein, die Spieler mussten in der Pause auf dem Platz bleiben, weil die Kabinen versperrt waren - doch alles in allem hatte der englische Fußball ein neues Zuhause gefunden.
Die längste Diskussion der Welt - Tor oder kein Tor?
Anders als in anderen Ländern werden im Wembley-Stadium neben den beiden Cup-Finals, den Relegationsspielen sowie diversen europäischen Finals nur Länderspiele ausgetragen - oft genug mit eher ernüchternden Ergebnissen für die Hausherren. Doch beginnen wir mit dem für die Engländer wichtigsten Ereignis, das jemals in Wembley stattfand, und bei dem sich sogar die beiden berühmten Twin Towers, die Türme am Haupteingang, bogen - dem WM-Finale 1966.
Zugegeben, für einen halben Engländer wie den Schreiber dieser Zeilen ist 1966 ein Jahr, dass am besten nie einen Platz in meinem Fußballleben finden sollte. Zu oft gibt es Diskussionen mit Freunden, die - wie ich - noch längst nicht geboren waren, als das legendäre Wembley-Tor (oder nicht-Tor) fiel. Zu oft wird einem bewusst, dass man selber in mehr als 30 Lebensjahren nie ein annähernd aufregendes Erlebnis mit der eigenen Nationalmannschaft hatte. Aber ob ich mich noch fast 50 Jahre später darüber würde aufregen wollen?
Was war denn überhaupt passiert? Deutschland hatte es im Mutterland des Fußballs bis in das Finale der WM geschafft, wo ein Treffen mit den Gastgebern auf dem Programm stand. Nach 90 Minuten stand es 2:2, in der 101. Minute schoss Geoffrey Hurst den Ball an die Unterkante der Latte - der Rest ist Geschichte. Und bietet auch heute noch genug Diskussionsstoff für Stammtische und Expertenrunden. Doch so wird ein Stadion zum Mythos - nicht ob der Tore, sondern ob der Geschichten. Und da haben ja besonders die Deutschen so einige zu erzählen.
Golden Goal, Hamann Bridge und all das zum Schnäppchenpreis!
Wie wäre es zum Beispiel mit dem ersten Golden Goal der Fußballgeschichte, mit dem Oliver Bierhoff 1996 gegen Tschechien den dritten deutschen EM-Titel eintütete? Oder mit Didi Hamann, der England mit seinem Freistoßtreffer beim letzten Spiel im alten Wembley Stadium in eine Sinnkrise stürzte - hatte man mit dem 0:1 doch den Abschied von dieser altehrwürdigen Stätte in den Sand gesetzt? Einzig der TSV 1860 München dürfte ungern an das Wembley-Stadium zurückdenken - denn im Jahr 1965 verlor man hier im Finale des Europapokals der Pokalsieger mit 0:2 gegen West Ham United.
Doch natürlich sind dies alles Geschichten aus dem alten, grauen und etwas düsteren Wembley Stadium. Was sich geändert hat? Eigentlich alles. Denn nach Hamanns Treffer im Jahr 2000 wurde das alte Stadion komplett abgerissen, um Platz für ein neues Schmuckstück zu machen. Drei Jahre wurden als Bauzeit veranschlagt - am Ende wurden es inklusive des Abrisses fast sieben. Und auch die Kosten explodierten - von Anfangs geschätzten 750 Millionen Euro auf am Ende kolportierte 1,4 Milliarden Euro. Doch dafür steht in London nun das neben dem Camp Nou in Barcelona größte Stadion Europas, und vor allem der überdimensionale Haarreif, der sich über das Stadion spannt, gibt dem Ganzen immerhin ein Bild der Unverwechselbarkeit.
Und auch in diesem Kontext geht es mal wieder um einen Deutschen: Denn nachdem bekannt wurde, dass der Name für die am neuen Stadion errichtete Fußgängerbrücke in einer Abstimmung ermittelt werden sollte, machten sich deutsche Fans daran, für den Namen Dietmar-Haman-Bridge abzustimmen - und erreichten so die Höchstzahl an Stimmen. So viel Humor hatten die Engländer dann aber doch nicht - die Brücke heißt mittlerweile White Horse Bridge in Anlehnung an den Schimmel Billy.
Warten auf das Wembley-Tor
Für die Engländer hingegen änderte sich mit dem neuen Stadion wenig. Das erste Spiel war das Finale um den FA-Cup 2007, im zweiten Länderspiel gab es eine 1:2-Niederlage gegen Deutschland, und bis heute spielt in dem Stadion keine Vereinsmannschaft, sondern weiterhin nur die Nationalmannschaft - und ab 2015 das englische Rugby-Team. Doch in der Zwischenzeit haben natürlich immer mal wieder Vereinsmannschaften die Möglichkeit, dem Stadion in diversen europäischen Finals ihren Stempel aufzudrücken - so wie der FC Bayern München und Borussia Dortmund am kommenden Samstag im Finale um die Champions League.
Eins ist sicher: Die Engländer werden auch dieses Spiel vor sowie im Stadion zu einem Fußballfest werden lassen, mit dem Wembley Stadium als angemessenem Rahmen und den - laut Robert Huth von Stoke City - 90.000 Handtüchern der Deutschen auf den reservierten Sitzen. Freuen wir uns auf einen tollen Fußballabend - und wer weiß, vielleicht erleben wir ja sogar die deutsch-deutsche Version des Wembley-Tors.
Oliver Stein