
Innerhalb von nur zwölf Monaten hat sich der SC Freiburg von einem Abstiegskandidaten zum Europa League-Aspiranten entwickelt. Zu verdanken ist das in erster Linie Trainer Christian Streich, dessen großes Trainertalent in der Öffentlichkeit meistens etwas zu wenig gewürdigt wird.
Kaum ein Artikel, der derzeit über den SC Freiburg und damit auch über Trainer Christian Streich geschrieben wird, kommt ohne mindestens eins der folgenden Attribute des Trainers aus: "fährt mit dem Fahrrad zum Training", "spricht alemannischen Dialekt", ist "Sohn eines Metzgers", ist "bescheiden und verbindlich", hat aber doch "Ecken und Kanten" - kurzum, er ist schon irgendwie ein komischer Kauz und hebt sich gerade dadurch von den übrigen Bundesliga-Coaches ab.
Als Person beschreiben diese Eigenschaften Streich natürlich treffend. Die Aufmerksamkeit, die Streich dafür erhält, verdeckt allerdings, dass sein sportlicher Erfolg bzw. den des SC Freiburg in erster Linie auf seine hervorragenden Qualitäten als Trainer zurückzuführen sind. Trotzdem sind es in Freiburg eigentlich nicht nur talentierte, sondern auch immer kauzige Trainer, die Erfolg haben. Volker Finke zum Beispiel, der während seiner 16-jährigen Amtszeit einst die legendären Breisgau-Brasilianer schuf. Streichs Art Fußball spielen zu lassen, erinnert an diese gute alte Zeit.
Vor gut einem Jahr hatte er den Cheftrainerposten beim damals am Boden liegenden SC Freiburg übernommen und nicht nur den schon fast nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt realisiert, sondern seine Mannschaft in dieser Saison sogar bis zur Winterpause auf Platz fünf der Bundesliga geführt. Ohne Zweifel ist Streich das große Mastermind hinter dem Erfolg der Süddeutschen. "Der beste Mann in Freiburg sitzt auf der Bank", lobte Jupp Heynckes kürzlich stellvertretend. "Er hat den Umschwung bewirkt in Freiburg."
Freiburger Jugendsystem und das streichsche Spielsystem
Kauzigkeit und Herkunft aus einfachen Verhältnissen mögen helfen, sich einen Draht zu den Spielern zu verschaffen, auf sie eingehen zu können. Sympathiepunkte kann man so vielleicht gewinnen, aber noch lange keine Spiele. "Er ist bescheiden, kompetent, lässt modernen Fußball spielen", lobte Heynckes weiter. Die Kompetenz modernen Fußball zu spielen, hatte sich Streich in seinen 16 Jahren als Trainer der Freiburger A-Junioren erarbeitet, mit denen er dreimal den DFB-Junioren-Vereinspokal und 2008 sogar die Deutsche Meisterschaft gewann.
Vom bundesweit hochgeachteten Freiburger Jugendsystem, das Streich als Jugendkoordinator selbst federführend mit aufgebaut hatte, profitiert er auch seit seiner Amtsübernahme im Profibereich. Den Abgang von Stürmerstar Papiss Demba Cisse, der für zwölf Millionen Euro nach Newcastle gewechselt war, hatte er mit Bordmitteln kompensiert. Vor der Saison verzichtete er bis auf drei junge, formbare Perspektivspieler auf Neuzugänge. Ergänzt wurde der Kader durch eigene Youngster, die den Vorteil mitbringen, bereits weitestgehend unter ihm aufgebaut worden zu sein, daher System und Offensiv-Philosophie der Freiburger und die Arbeitsweise des Coaches aus dem Effeff kennen.
Streich schwört vornehmlich auf ein 4-4-2-System, lässt seine Mannschaft hoch und aggressiv pressen ähnlich wie der BVB. Früh werden die Anspielstationen zugestellt, der ballführende Gegner so unter Druck gesetzt und damit zu Fehlern gezwungen. Gleichzeitig verfügt der SC Freiburg über ein schnelles und hervorragendes Umschaltspiel. Das flotte Kurz- und Flachpassspiel bedingt eine hohe Einsatz- und Laufbereitschaft der ganzen Mannschaft und eine große taktische Disziplin. Das fängt bereits im Sturm an, den Streich daher auch seit dem Abgang von Torjäger Cisse gerne mit gelernten Mittelfeldspielern besetzt - aktuell regelmäßig mit Jan Rosenthal und Max Kruse.
Vielseitig einsetzbare Spieler
Der Star ist die Mannschaft, die Probleme auf dem Platz nach Möglichkeit spielerisch und im Kollektiv lösen soll. Perfekt einstudierte Laufwege sind wichtig, variabel ausgebildete, auf verschiedenen Positionen einsetzbare Spieler allerdings Grundvoraussetzung. Vegar Hegenstad kann sowohl linken und rechten Außenverteidiger, Johannes Flum unter anderem beide Innenverteidigerpositionen und Oliver Sorg sowohl defensives Mittelfeld als auch auf der Außenbahn spielen. Genau darauf wird in der Nachwuchsausbildung in Freiburg Wert gelegt.
"Die Jungs kommen aus unserer Fußballschule. Da hat ein Außenstehender gar keine Vorstellung, was in dieser Einrichtung passiert", hatte Streich laut welt.de vor der Saison erklärt. Die Bedingungen und Abläufe dort seien durchaus mit dem Profibereich vergleichbar, ergänzte er: "Ein A-Jugendspiel unterscheidet sich von der Bundesliga vor allem wegen der fehlenden 50.000 Zuschauer und dem ganzen Brimborium. In Vorbereitung, Analyse und dem dem Alter angemessenen Anspruch unterscheidet es sich nicht."
Harmonie, Teamgeist, aber auch Willen und Moral
Das scheint sich derzeit zu bewahrheiten. Freiburg steht auf Platz fünf der Bundesliga, hat mit 18 Gegentreffern die zweitbeste Defensive hinter dem FC Bayern München. Sicherlich auch Resultat davon, dass Streich seinen Spielern zugesteht, Fehler machen zu dürfen, sie nicht bei Misserfolgen vorschnell wieder aus der Mannschaft nimmt. Außerdem erklärt er ihnen akribisch genau, manchmal auch mit einem leichten Hauch von Besessenheit, was er von ihnen verlangt - in Einzelgesprächen oder auch bei praktischen Trainingsübungen auf dem Platz.
"Herr Streich hat immer ein offenes Ohr, auch wenn es um private Sachen außerhalb des Fußballs geht. Er nimmt eine Vaterrolle ein. Zwischen uns Spielern und ihm ist im Lauf der Jahre eine sehr enge Beziehung entstanden", beschrieb Oliver Baumann die Arbeitsweise des Coaches laut stern.de. Streich verfügt über eine unglaublich große Sozialkompetenz, die er auch auf seine Mannschaft übertragen konnte. "Wir haben Spieler, die sehr ehrgeizig und hungrig sind und dabei gleichzeitig ihre Nebenleute nicht vergessen", lobte Streich im kicker.
In Freiburg herrscht danke Streich ein Wohlfühlklima, in dem auch Neulinge schnell integriert werden, von Anfang an akzeptiert und respektiert sind und sich so schnell zu Leistungsträgern entwickeln können wie Daniel Caligiuri oder Oliver Sorg. Harmonie und Teamgeist sind eine Sache. "Wir haben aber auch den Willen, so viel zu laufen und so viel zu arbeiten. Das haben nicht alle Mannschaften und das zeichnet uns aus", beschrieb Baumann im Interview mit bundesliga.de.
Freiburg hat noch viel Luft nach oben
Trotzdem hat Freiburg noch viel Luft nach oben, wie das Spiel gegen Schalke trotz des 3:1-Sieges zeigte. "Viele unnötige Ballverluste, hatte Streich nach der Partie auf der Pressekonferenz kritisiert, allerdings auch festgestellt, dass man "dieses Mal nicht so viele Torchancen gebraucht hatte. Dass man in Freiburg trotz des derzeitigen Höhenflugs immer noch nicht vom Saisonziel Klassenerhalt abrücken will, ist daher eher Realismus als Understatement.
Wie sehr der Gedanke an die Europa League eine gut gestartete Mannschaft aus der Bahn werfen kann, hat Hertha BSC in der letzten Saison bewiesen, am Ende stand der Abstieg. Von daher sind Streichs vielzitierte Kauzigkeit, Bescheidenheit und Bodenständigkeit für den Erfolg zwar sicherlich nicht ganz so wichtig wie sein enormes Trainertalent, sondern letztlich das I-Tüpfelchen, das das Letzte aus den insgesamt begrenzten Freiburger Möglichkeiten herauskitzeln kann.