Tony Martin wusste gar nicht, wohin mit seiner unbändigen Freude. Immer wieder streckte der tragische Held der ersten Tour-de-France-Tage den Arm jubelnd in die Luft, das Lächeln im staubverschmierten Gesicht wollte überhaupt nicht verschwinden. Im vierten Anlauf gelang dem 30-Jährigen bei der 102. Frankreich-Rundfahrt endlich die Fahrt ins Gelbe Trikot, und einen famosen Etappensieg gab es nach einem verrückten Solo obendrauf.
Das spektakuläre vierte und zugleich längste Tour-Teilstück wurde am Dienstag in der "Hölle des Nordens" endlich zum großen Triumph für den Zeitfahr-Spezialisten, der zuvor dreimal denkbar knapp am Maillot jaune vorbeigefahren war. "Das war alles oder nichts, ich habe alles auf eine Karte gesetzt", sagte Martin nach dem Ritt über das Kopfsteinpflaster des Klassikers Paris-Roubaix in der ARD: "Das ganze Pech hat sich heute in Glück umgewandelt."
Im Ziel umjubelte ihn nicht nur sein Team, auch die Zuschauer waren restlos begeistert, und der große "Kannibale" Eddy Merckx war einer der ersten Gratulanten. Vier Kilometer vor dem Ziel hatte Martin sich abgesetzt und war nicht mehr einzuholen. "Ich hatte noch einiges an Kraft, und ich habe es geschafft. Keine Ahnung, was sich hinter mir abgespielt hat. Ich bin einfach nur überglücklich", sagte der gebürtige Cottbuser bei Eurosport.
Dabei schien Martins Gelb-Fluch zunächst weiter anzuhalten, als der Wahl-Schweizer knapp 20 km vor dem Ziel einen Defekt meldete und auf das Rad seines Quick-Step-Kollegen Matteo Trentin wechseln musste. "Nach dem Plattfuß hatte ich den Tag eigentlich schon abgehakt", sagte er. Stattdessen fuhr er als 14. Deutscher in der Tour-Geschichte ins Gelbe Trikot und hat in der Gesamtwertung nun zwölf Sekunden Vorsprung auf den Briten Christopher Froome (Sky).
Auf der Etappe über 223,5 km von Seraing/Belgien nach Cambrai in Nordfrankreich sorgte der favorisierte Roubaix-Sieger John Degenkolb auf Rang zwei für einen deutschen Doppelsieg, war aber dennoch völlig niedergeschlagen. "Ich bin sehr enttäuscht, auch wenn es schön für Tony ist", sagte der 26-Jährige mit gedrückter Stimme und schaute nach seinem insgesamt vierten zweiten Platz auf einer Tour-Etappe wie paralysiert ins Nichts.
Degenkolb galt als Favorit
Auf seinem Lieblingsterrain wollte der gebürtige Thüringer aus dem Team Giant-Alpecin eigentlich den ersehnten ersten Tour-de-France-Etappensieg seiner Laufbahn, aber der gewonnene Sprint der Verfolgergruppe vor dem Slowaken Peter Sagan (Tinkoff-Saxo) war zu wenig. Drei Sekunden rettete Martin vor seinem Landsmann. "Wir sind mit unseren Möglichkeiten hinter Tony her, aber haben vielleicht einen Moment zu lang gezögert", sagte Degenkolb.
Degenkolb hatte nicht umsonst als großer Sieganwärter gegolten. Im April gewann der Wahl-Frankfurter auf vergleichbarem Terrain nach einem beeindruckenden Kraftakt die "Königin der Klassiker". Dort allerdings ging es nicht 13,3 km sondern mehr als 50 km über die mittelalterliche Feldwege. Es war und bleibt vorerst auch sein bisher größter Triumph.
Martin aber lieferte nach den Enttäuschungen beim Auftakt-Zeitfahren in Utrecht, auf der Windetappe nach Neeltje Jans und an der Mauer von Huy einen beeindruckenden Nachweis seiner Stehauf-Qualitäten. Erfolgreich verlief der Tag auch für André Greipel, der das Grüne Trikot behauptete, Andreas Schillinger aus dem Team Bora-Argon 18 musste die Tour dagegen erkrankt aufgeben.
Im vergangenen Jahr hatte die Großen Schleife ebenfalls einen Abstecher in die "Hölle" gewagt. Titelverteidiger Vincenzo Nibali zeigte dort eine erstaunliche Leistung und knüpfte Alberto Contador eine Menge Zeit ab. Froome stürzte damals noch vor dem Kopfsteinpflaster heftig und musste aussteigen. Diesmal neutralisierten sich die Tour-Favoriten nach einem harten Kampf, zahlreichen Attacken, aber keinen weiteren schweren Stürzen.
Radtausch bei Degenkolb
Insbesondere die sehr aktiven Nibali und Froome schickten ihre Helfer immer nach vorn, um das Rennen zu animieren und vor allem jeder Gefahr aus dem Weg gehen zu können. Aber auch Martin und Degenkolb waren äußerst präsent.
Nach der Zwischensprintwertung tauschte Degenkolb dann sogar das Rad. Für das holprige Pflaster stand eine Rennmaschine mit breiteren Reifen und geringerem Luftdruck zur Verfügung, doch auf den Antritt von Martin wusste er trotzdem keine Antwort mehr.