Doping-Whistleblowerin Julia Stepanowa gibt nicht auf: Die Russin will nach ihrem bemerkenswerten EM-Auftritt auch bei den Olympischen Spielen in Rio starten.
Julia Stepanowa saß nach ihrem historischen EM-Auftritt schüchtern auf einem Hocker. Umringt von Dutzenden Journalisten, musste die berühmteste Whistleblowerin der Leichtathletik-Geschichte eine Frage nach der anderen beantworten. Das Interesse an der 30-jährigen Russin, Enthüllerin des Doping-Systems in ihrer Heimat, war riesig.
Ob sie um ihr Leben fürchtet? "Kein Kommentar", sagte Stepanowa fast flüsternd in die Aufnahmegeräte. In Russland gilt die 800-m-Läuferin inzwischen als Verräterin, muss mit ihrer kleinen Familie an einem geheimen Ort in den USA leben, bei der EM in Amsterdam wurde sie stets von einem Bodyguard bewacht. Und sie erhielt viel Zuspruch. "Alle Athletinnen sind vor dem Rennen zu mir gekommen und haben mir gedankt für das, was ich getan habe", sagte Stepanowa: "Sie haben mich sehr unterstützt."
Ob sie denn nun einen Start in Rio anpeile, lautete die nächste unumgängliche Frage: "Ich weiß noch nicht, ob ich bei den Olympischen Spielen sein werde, weil mir bisher niemand das Recht oder die Erlaubnis zu starten erteilt hat", sagte die 30-Jährige. Adressat der Aussage: der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach.
Russische Medien wittern Rache
Stepanowa hatte bei ihrem Comeback über 800 m zwar sportlich keine Chance, aber ihr Start wurde auch so zu einem Symbol - und bringt Bach unter Zugzwang. "Der Druck war groß, es gab eine Menge Leute, die mir nicht geglaubt haben", sagte Stepanowa, die als einzige Russin in Amsterdam starten durfte.
"Die russischen Medien haben nicht geglaubt, dass wir die Wahrheit sagen. Sie glauben, wir wollen Rache", sagte Stepanowa, die mit ihrem Mann Witali den Skandal um flächendeckendes Doping in der russischen Leichtathletik ins Rollen gebracht hatte: "Russland glaubt immer noch nicht, dass die Geschichten über Doping wahr sind."
Doch sie sind es, das hat eine unabhängige Kommission der Welt-Anti-Dopingagentur WADA längst bestätigt. Die russischen Leichtathleten sind deshalb bis auf Weiteres international gesperrt, Stepanowa durfte mit einer Ausnahmegenehmigung des Weltverbandes IAAF als "neutrale Athletin" in Amsterdam starten - wegen ihrer Verdienste als Kronzeugin im Kampf für die Aufklärung.
Stepanowa würde auch unter neutraler Flagge starten
IAAF-Chef Sebastian Coe rief am Donnerstag weitere potentielle Whistleblower dazu auf, verdächtige Vorgänge zu melden. "Sie müssen ihre Köpfe über die Brüstung halten, sie wissen mehr als jeder von uns", sagte der Brite: "Sie stehen an der Laufbahn, sie kennen Trainer, die nicht ehrlich arbeiten. Sie können uns helfen, das ist wirklich wichtig."
Stepanowas mit Spannung erwarteter Auftritt wurde zum persönlichen Drama, sie musste mit einem Riss der Plantarsehne im rechten Fuß, so die erste Diagnose, aufgeben und humpelte ins Ziel. Später wurde sie noch disqualifiziert, weil sie den Innenraum betreten hatte. Doch aufgeben will Stepanowa auf keinen Fall.
Bach bestätigte der Tageszeitung die Welt, dass Stepanowa beim IOC eine Starterlaubnis für Rio beantragt hat. Das IOC werde die Anfrage nun "sorgfältig prüfen", sagte Bach, der aber noch einmal klarstellte, dass russische Athleten in Rio unter der russischen Flagge zu starten haben. Allerdings gilt es als ausgeschlossen, dass das russische NOK die Staatsfeindin Stepanowa nominieren wird. Das IOC leitete den Fall am Donnerstag an seine Ethikkommission weiter.
Aber Stepanowa wird weiter kämpfen. "Wenn ich unter der russischen Flagge nicht willkommen bin, starte ich unter einer neutralen Flagge", sagte sie. In ihrer Macht liegt das nicht. Aber Coe will sich für Stepanowa einsetzen: "Ich möchte nicht, dass dies das Ende der Geschichte ist."