Boykottandrohung, Schadensersatzforderung, Veranstalterkritik: Nach dem jüngsten Unfall mit einem Begleitmotorrad bei der 70. Vuelta in Spanien spitzt sich im Radsport eine Sicherheitsdebatte zu. "Die Häufung der Zwischenfälle ist besorgniserregend", sagte etwa Jörg Werner, Manager der deutschen Stars Marcel Kittel, John Degenkolb und Tony Martin, dem SID am Donnerstag.
Eine klaffende Risswunde beim Portugiesen Sergio Paulinho, die mit 17 Stichen genäht werden musste, ist das letzte Resultat einer solchen Kollision. Erst vier Etappen zuvor war der slowakische Star Peter Sagan rüde umgefahren worden - wie Paulinho musste der viermalige Gewinner des Grünen Trikots der Tour de France die Spanien-Rundfahrt aufgeben und sagte daraufhin: "Das ist inakzeptabel, die Sicherheit muss absolute Priorität haben." Mit viel Glück hatte er sich nicht schwer verletzt.
Sagan und Paulinho fahren für Tinkoff-Saxo, das Team des exzentrischen Oleg Tinkov. Der Russe, ohnehin mit Rennveranstaltern nicht immer auf einer Wellenlänge, hat jetzt genug gesehen und beschwört einen offenen Konflikt herauf. "Boykottiert die Vuelta", twitterte Tinkov nicht zuletzt in Richtung von Tour-de-France-Veranstalter ASO, der über die Tochterfirma Unipublic auch die Vuelta organisiert.
Zumal Tinkoff-Saxo noch just am Mittwoch einen offenen Brief an die Vuelta-Veranstalter, den Weltverband UCI sowie die Fahrergewerksschaft CPA versendet hatte und darin neben einer öffentlichen Entschuldigung auch Kompensationszahlungen für den unverschuldeten Ausfall Sagans und entgangene Erfolge einforderte.
Am Donnerstag stand das Tinkoff-Team gleichwohl doch am Start der zwölften Etappe - aber nur unter Vorbehalt: "Das Team wird das Rennen sofort beenden, wenn sich ein Zwischenfall vergleichbar zu denen mit Peter Sagan und Sergio Paulinho wiederholt", hieß es in einem offiziellen Statement. Zuvor waren einige sicherheitsrelevante Sofortmaßnahmen wie eine Verdopplung des Minimalabstandes zwischen Fahrern und Fahrzeugen beschlossen worden.
"Alles gerät aus dem Gleichgewicht"
Die Vorfälle bei der Vuelta sind dabei nur die letzten in einer längeren Kette an Aussetzern in dieser Saison. Unter Insidern gelten nicht wenige Fahrer im Begleittross als nicht hinreichend geschult und bisweilen unaufmerksam. So wurde bei der Flandern-Rundfahrt im Frühjahr der Neuseeländer Jesse Sergent von einem neutralen Materialwagen umgefahren und erlitt einen Schlüsselbeinbruch, bei der Clasica San Sebastian brachte ein Motorrad den Belgier Greg van Avermaet um den Sieg.
Bei der Baskenland-Rundfahrt im April war dagegen die Streckenführung katastrophal. Auf der Zielgeraden in Bilbao standen den Fahrern plötzlich ungekennzeichnete Metallpfosten im Weg, ein folgenschwerer Massensturz zog teils äußerst ernste Verletzungen nach sich. "Überall sollte die Gesundheit der Fahrer im Vordergrund stehen, der Radsport ist schon risikoreich genug. Ich habe das Gefühl, alles gerät etwas aus dem Gleichgewicht", sagte Werner.
Die UCI hat angekündigt, das Regelwerk für die kommende Saison in Bezug auf die Begleitfahrzeuge zu überdenken, der Vuelta-Veranstalter reagierte am Donnerstag nach längerem Zögern erstmals vernehmbar. So mancher Fahrer fühlt aber auch seine Interessen nicht ausreichend repräsentiert. "Was tut unsere Fahrervertretung CPA, um etwas zu ändern?", twitterte Marcel Kittel am Mittwoch fragend: "Es gibt noch nicht einmal ein Statement zum Vorfall mit Peter Sagan. Wir Fahrer erwarten mehr."