Der Fall Kevin Pezzoni dient vielen Medien als Brennspiritus und befeuert die Brandmarkung der Ultras. Die Diskussion um Fans, Ultras und Chaoten wird begrifflich inflationär und gleichzeitig eindimensional vorangetrieben. sportal.de betrachtet die Hintergründe.
Medienvertreter und Verantwortliche im Profifußball standen zuletzt mit Ohmacht vor den Geschehnissen im Fall Kevin Pezzoni. Schnell artete die Debatte auf das Thema Gewalt im Fußball aus und die Forderungen nach einer Null-Toleranz-Politik wurden laut. Warum aber nicht in allen Fällen den Hardlinern das Feld überlassen werden sollte, schreibt sportal.de.
Fans jagen Spieler, Medien jagen Club
Nachdem Anhänger des 1. FC Köln den Spieler Kevin Pezzoni durch Internethetze und persönliche Gewaltandrohung massiv eingeschüchtert hatten, ließ sich der Club vom Boulevard durch die Kölner Gassen treiben und entledigte sich des Problems durch die Vertragsauflösung mit dem Spieler.
Das Nachspiel ist bekannt. Pezzoni gab an, den Rückhalt des Clubs vermisst zu haben. Der Eindruck sei entstanden, dass der 1. FC Köln die Gelegenheit genutzt habe, um ihn loszuwerden. Der Club widersprach dieser Version, mahnte die "Wohlverhaltensklausel im Aufhebungsvertrag ein und merkte an, Pezzoni hätte der Vertragsauflösung nicht zustimmen müssen und habe zudem eine großzügige Abfindung erhalten.
Club gegen Spieler, Spieler gegen Club
Welche der beiden Parteien nun recht hat, ist fast zur Nebensächlichkeit verkommen, denn die Tatsache an sich, dass fanatische Anhänger eines Fußballvereins so weit gehen, Spielern privat aufzulauern und Gewalt anzudrohen, sowie die Folgen, dass es dadurch letztlich zu einer Vertragsauflösung mit dem Spieler kam, stimmen bedenklich.
Natürlich ist es nicht zum ersten Mal zu einer solchen Entgleisung von Fans gegenüber Spielern gekommen. Ein trauriges Beispiel war der Fall des Mittelfeldspielers Daniel Bauer vom Regionalligaklub 1. FC Magdeburg, der vor seiner Wohnungstür von einer Gruppe vermummter Personen massiv bedroht wurde. Solche Fälle gab es vermutlich auch früher schon, doch war die mediale Präsenz eine andere.
Der schwarze Peter geht an die Ultras
Die Anhänger des 1. FC Köln, um die es im konkreten Fall geht, haben eine Grenze überschritten und müssen strafrechtlich verfolgt werden. Die Aussagen des Initiators der hetzerischen Facebook-Gruppe "Kevin Pezzoni aufmischen", zeigen die geistige Armut dieser Fans. In diesem Punkt sind sich wohl alle einig. Etwas anderes ist die erneut losgetretene Debatte um Fans und Ultras. "Das sind keine Fans, sondern nur Chaoten", heißt es in vielen Talkshows schnell und die Diskussion weitetete sich in Richtung Ultras, Hooligans und Fankultur aus.
Schade ist nur, dass bei diesen Diskussionen meist nicht mit Vertretern dieser Gruppen, oder zumindest Fachleuten, die sich mit diesen Gruppen beschäftigen diskutiert wird, sondern wie im Falle des Fantalks auf Sport1 mit Peter Neururer, Thomas Brdaric und Matze Knop. Der Erkenntnisgewinn war gering, zwischendurch hatte man den Eindruck, Frank Buschmann dürfe entscheiden, wer sich Fan nennen darf und wer nicht.
Fangruppen und Vorfälle differenziert betrachten
Nach den Vorkommnissen um die Relegationsspiele der ersten und zweiten Liga, dem Platzsturm bei Fortuna Düsseldorf und den gewalttätigen Ausschreitungen in Karlsruhe, standen Medienvertreter und Politik gleichermaßen ohnmächtig vor den Problemen, die nur allzu gern über einen Kamm geschert und als "Gewalt im Fußball" begriffen werden.
Dabei müssen nicht nur die einzelnen Fälle von Ausschreitungen differenziert betrachtet werden, sondern auch die Fangruppierungen. Der Begriff "Fan" deckt eine Spannbreite ab, die von Anhängern, die vor dem TV ihrem Club die Daumen drücken, bis zu Kutten-Fans, Ultras oder Dauerkarteninhaber auf der Sitzplatztribüne geht.
Das Phänomen Ultras
Die Bösewichte sind jedoch zumindest für die Medien schnell gefunden. Die Ultras. Ultras werden oft pauschal als Problemfans, Gewalttäter, Rechtsradikale oder Hooligans gebrandmarkt. Die Ultra-Bewegung in Europa ist ein Phänomen, das in den 1960er Jahren in Italien entstand und dann langsam über West-, Südost- und Ost- nach Nordeuropa kam. In Deutschland sind Ultra-Gruppierungen erst Anfang der 1990er Jahre angekommen.
Zum Phänomen unter den Fangruppen wurden die Ultras allerdings erst zur Jahrtausendwende. "Es ist den Ultras gelungen, die Anfeuerungskultur in nahezu jeder Fankurve zu dominieren. Alle haben sich daran gewöhnt, dass die Ultras den Takt vorgeben, erklärt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (Kos), im Interview mit sportal.de.
Was sind eigentlich Ultras?
Ultras sind Fans, die ihren Club und ihre Stadt besonders leidenschaftlich, emotional, engagiert unterstützen und dabei sehr aktiv und gut organisiert für Stimmung im Stadion sorgen wollen. Dabei stehen optische Aktionen wie die spezielle Kurven-Choreografie, Schwenkfahnen, Doppelhalter und Pyrotechnik ebenso im Mittelpunkt wie akustische Aktionen durch einen mit einem Megaphon (oder Mikrofon) ausgestatteten "Vorsänger".
Ultras verstehen sich dabei nicht vornehmlich als Mitglied eines Fan-Clubs. Ultra zu sein, bedeutet eher eine Art Lebenseinstellung. Die Ultra-Identität ist Teil einer neuen Fan- und Jugendkultur, in der es darum geht, Teil einer eingeschworenen Gruppe zu sein. Die Ultras begreifen sich selbst dabei als "Avantgarde" - als die Stimme der Fans.
Allerdings machen sie prozentual bei Heimspielen meist nicht mehr als 1 - 5 Prozent aller Zuschauer aus. Bei Auswärtsspielen stellen sie dagegen einen überproportional großen Anteil der mitgereisten Fans. In vielen Ultragruppierungen gehört allerdings auch Gewaltbereitschaft gegenüber anderen Ultragruppen oder der Polizei zum Selbstverständnis.
Die attraktivste jugendliche Subkultur
Michael Gabriel weißt im Interview mit dem NDR auf die "hohe Bedeutung als Sozialisationsinstanz dieser Gruppierungen hin. "Es gibt Stimmen, die sagen, dass es die attraktivste jugendliche Subkultur in Deutschland ist", ergänzt er. "Wenn man sich dann in eine solche Ultra-Gruppierungen hineinversetzt, wo jeder, wenn er die richtigen Farben trägt, hoch willkommen ist und große Wertschätzung erfährt, dann kann man erahnen, welche Bedeutung diese Gruppen für junge Leute haben."
Dabei verweist er auf Studien von Wilhelm Heitmeyer (Universiät Bielefeld), der auf die hohe Bedeutung gesellschaftlicher Anerkennung für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen hindeutet. "Etwas, das die Gesellschaft immer weniger bereit hält, aber die Ultras im hohen Maße bieten, so Gabriel.
Der Sicherheitsgipfel wurde zur Farce
Die Politik reagierte auf die Ausschreitungen in Düsseldorf, Karlsruhe und Dortmund wenige Wochen vor Beginn der Bundesliga mit einem "Sicherheitsgipfel zu dem allerdings Fanvertreter nicht eingeladen waren. Innenminister Hans-Peter Friedrich scharte Vertreter des Deutsche Fußball-Bundes, der DFL und Vertreter der Vereine der ersten und zweiten Liga um sich. Nur Union Berlin blieb der Veranstaltung fern. Das Ergebnis war ein zuvor vom Innenministerium erarbeiteter Verhaltenskodex, der Gewalt und Pyrotechnik ablehnt und eine Verschärfung der Stadionverbotsrichtlinie enthält.
Das Bündnis "ProFans" lud zum Gegengipfel ein und zeigte sich enttäuscht über die mangelnde Diskussionbereitschaft der Politik. Die Verschärfung der Stadionverbotsrichtlinien wurde als "Schlag ins Gesicht" begriffen, wie es Jakob Falk von "ProFans" formulierte. "Wir haben keine Argumente mehr, um Leute zu überzeugen. Eine Radikalisierung setzt dann ein, wenn der Dialog abbricht", so Falk. Den Hardlinern der Politik ging es nicht um die Fans oder den Fußball, sondern um die Beruhigung der Medien, wurde geunkt.
Für den Fußball - gegen die Fans?
Das Motto des Sicherheitsgipfels lautete "Für Fußball gegen Gewalt", dabei werden Gewalt und Pyrotechnik oft gleichgesetzt. Keiner scheint sich noch an die Tage zu erinnern, wo Fußballkommentatoren neidisch in manche Länder Südeuropas schauten und von der tollen Atmosphäre in den pulsierenden Fankurven schwärmten, in denen Bengalos wie selbstverständlich dazugehörten. Jetzt hört man den reflexartig ausgespuckten Satz der Kommentatoren: "Das sind Bilder, die wir nicht sehen wollen", wenn irgendwo ein Bengalo in die Höhe gehalten wird. Wie schnell sich doch die Zeiten ändern.
Viele Fans wollen die gute Stimmung, aber wissen scheinbar oft nicht, wo die herkommt. "Der große Fehler besteht darin, dass diejenigen Fans am heftigsten kritisiert werden, die dafür sorgen, dass der Fußball populär geworden ist und uns jedes Wochenende mit Choreografien Freude bereiten. Und ganz nebenbei gewährleistet, dass der Fußball Millionensummen generiert. Wenn aber dann einer ein Pyrofeuer hochhält, ist das alles von jetzt auf gleich vergessen. Dann bricht wieder eine übertriebene Hysterie aus und es wird so getan, als würde die Welt untergehen", erklärt Fußballtrainer Ewald Lienen im Interview mit 11freunde.
Dreht der Innenminister bald durch?
Die Lage zwischen Ultragruppierungen und der Politik scheint festgefahren. Tom Eilers (Sportmanager SV Darmstadt 98) äußerte sich während der Gespräche mit ProFans: "Irgendeiner muss aufhören. Wenns jetzt wieder brennt, dann drehen die Innenminister durch", so berichtet ballesterer.at. Die Hardliner scheinen sich durchgesetzt zu haben und geben der Liga und den Vereinen vor, was sie durchzuführen haben. Die Vereine kuschen, da sie Angst vor den Bestrafungen haben. Das geht von Geldstrafen über Geisterspiele, bis zu möglichen Punktabzügen oder dem angedrohten Stehplatzverbot.
"Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass wir nur zum Abnicken gekommen sind", kritisierte ein nicht genannter Klubfunktionär den "Sicherheitsgipfel" des Innenministers laut 11freunde.de. Dabei braucht es nach Meinung der Experten genau das Gegenteil: Dialog statt Diktat. "Anstatt direkt die Vereine zu bestrafen, müssen der DFB und die Vereine die Gespräche mit den Ultras beibehalten und intensivieren, um der Fankultur Herr zu werden. Das ist die einzige Chance, die der Fußball hat", meint Ewald Lienen.
Kontakt intensivieren, nicht abrechen
Auch der Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte Michael Gabriel setzt sich für einen Dialog mit Fangruppen ein "Es muss eine regelmäßige und transparente Kommunikation seitens des Vereins geben, um Diskussionsprozesse, innerhalb der Fangruppen zu unterstützen. Die Interessen von einem Fanclub sind ja potenziell andere, als die eines 17, 18-jährigen Ultras. Diese Prozesse sollte ein Verein aktiv mitgestalten und genau an dieser Schnittstelle passiert leider noch viel zu wenig."
Die Hardliner werden also weiterhin mit Ohmacht auf die verschiedenen Probleme in der deutschen Fankulur reagieren und immer härtere Strafen fordern, während sich viele Ultragruppierungen durch die Konfrontation weiter radikalisieren. Unterdessen bleiben die Medien bei ihrem bequemen "Alles in einen Topf"-Spiel, wo friedliche Ausbrüche, wie die der Fortuna-Fans beim Relegationsspiel, mit Gewalt gleichgesetzt werden und Pyrotechnik als Teufelswerk der Hooligans bezeichnet wird, die in Wirklichkeit aber Ultras sind.